Bayerische Geschichten 29/2021: Zeitreise in Münchens älteste Vorstadt

Liebe Leserin, lieber Leser,
das Lehel ist Münchens älteste Vorstadt und war über Jahrhunderte ein Zentrum der Betriebsamkeit. An zahlreichen Bachläufen standen Mühlen und Hammerwerke, die wegen ihrer hohen Erträge als Lehen („Leihegut“) des herzoglichen Stadtherrn galten – eine rechtliche Besonderheit, die schließlich zum Ortsnamen „Lehel“ führte. Eine wesentliche Rolle spielte auch die Flößerei. Ab 1880 kam es zu einer umfassenden Sanierung, die das Lehel in ein bevorzugtes Münchner Wohnviertel verwandelte. Richard Bauer blickt, unterfüttert mit umfangreichem, erstmals veröffentlichtem historischem Bildmaterial, zurück in eine weitgehend unbekannte und untergegangene Welt.

 

Der Stadtbach als offene Kloake, 1895. Es handelt sich hier um rückwärtige Situationen der Kleinhaus-Bebauung links und rechts vom Hofhammerschmiedbach. Mitunter stürzten morsch gewordene Anbauten samt Benutzer in den Bach (Foto: Stadtarchiv München, C1895255).

Keine andere Vorstadt ist so eng mit München verbunden wie das Lehel: Von Beginn an war es ein wichtiger Bestandteil der urbanen Erfolgsgeschichte. Hier siedelten sich schon früh Mühlen, Gewerbebauten und Nutzgebäude an, die auf Wasser angewiesen waren und die man wegen der mit ihnen verbundenen Feuergefahr, Lärm- und Schutzbelastung nicht in der Stadt haben wollte. Der Bedarf an billigen Arbeitskräften war enorm und so prägten über Jahrhunderte deren ärmliche Kleinsthäuser und sogenannte Herbergsbauten das Bild der Vorstadt. Die Bewohner des Lehels, oftmals Wäscher, Zimmerleute, Floßknechte, Färber, Kalkbrenner, Maurer oder Taglöhner, hausten hier unter schier unzumutbaren hygienischen Lebensbedingungen.

Die Flößergaststätte Zum Ketterl war ein beliebter Rastplatz für Flößer und Holzknechte aus dem Oberland. Das Foto fasst die Alltagssituation an der Lände gut zusammen: In der Isar ein Floß, am Ufer Baumstämme, hinter dem Haus hoch aufgeschichtete Holzstapel, um 1880 (Foto: Stadtarchiv München, FS-NL-KV-0641).

Seine rege Betriebsamkeit hatte das Stadtviertel mitunter der Isar und der Flößerei zu verdanken. Flöße mit ihrem kaum vorhandenen Tiefgang stellten das ideale Transportmittel dar, denn die Isar ist nicht schiffbar. Die Arbeiter an den Floßländen leisteten täglich Schwerstarbeit beim Entladen und Zerlegen der für einen kontinuierlichen Warenzufluss unverzichtbaren Flöße. Daneben diente die Isarflößerei vor allem weniger begüterten Personen als wichtiges Verkehrsmittel in Richtung Wien. Doch nicht nur die Floßlände war für die Bevölkerung von großer Bedeutung, sondern auch eine im Lehel ausgewiesene große Bleichstatt, die einer Vielzahl von Wäschern und Webern als Arbeitsstätte diente.

An der nördlichen Widenmayerstraße, 1910. Bemerkenswerterweise gab es für die noblen Bewohner der Neubauten zwischen Straßentrasse und Kai-Promenade sogar einen eigenen Reitweg (Foto: Stadtarchiv München, FS-NL-PETT1-3947).

Heute ist der Stadtteil kaum wiederzuerkennen: Wo früher bescheidene bis ärmliche Gewerbeeinrichtungen und Wohnhäuser dominierten, sind heute großbürgerliche Wohnquartiere, staatliche Regierungs- oder Verwaltungsbauten sowie Versicherungs- und Bürogebäude zu finden. Bereits mit Beginn des 19. Jahrhunderts nahmen die Pläne Gestalt an, die Flächen der äußeren Stadtteile mit der Inneren Stadt zu verbinden. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte sämtliche Neu- und Umplanungen, die nach Ende des Krieges jedoch bald wieder aus den Schubladen gezogen wurden. Manche Veränderungen, die in dieser Zeit im Lehel vorgenommen wurden, sind noch heute zu sehen – wie etwa das Haus der Kunst am Rande des Englischen Gartens.