Bayerische Geschichten 19/2021: Tödliches Vermächtnis

Liebe Leserin, lieber Leser,

in Franken wird wieder ermittelt! Nach Bamberg, Bayreuth und Würzburg führt der vierte Band aus der Feder unseres Frankenkrimi-Meisters Werner Rosenzweig ins „Mörderische Nürnberg“: Als Kommissar Tobias Bellinghausen und seine Kollegin Sandra Knobloch zu einem Autounfall auf der B4 gerufen werden, sehen die beiden ihr ruhiges Weihnachtsfest in Gefahr. Und überhaupt: Ein Verkehrsunfall, auch einer mit Todesfolge, gehört gar nicht zu ihrem Aufgabenbereich! Doch nur einer der beiden Toten am Unfallort ist auch ein Opfer des Crashs. Das Ermittler-Duo hat sich kaum mit dem seltsamen Fall angefreundet, da gibt es einen grausigen Fund auf dem St.-Rochus-Friedhof: Ein jüngst Verstorbener liegt nicht allein in seinem Sarg …

Die Trauergäste, die Ernst Vicking am Dienstag zu Grabe tragen wollten, waren von weit her gekommen. Die Familienangehörigen hatten sich für eine Sargbestattung entschieden. Sie wollten keine verrottbare Urne und Opa Ernst hatte das auch nicht gewollt.
Nun standen sie alle in der Nähe der Trauerhalle, in der der Leichnam auf die letzte Ruhe vorbereitet wurde, und warteten auf den Einlass. Unter ihnen auch Enkelin Maria, die extra aus Wien angereist war.
[…]
„Sie können sich gern persönlich von dem Verstorbenen verabschieden“, sprach der junge Mann vom Bestattungsinstitut weiter. „Wie gesagt, Ihnen stehen dafür zwanzig Minuten zur Verfügung.“
Maria war eine der letzten, die Opa Ernst die letzte Ehre erwies. Ihre Gefühle übermannten sie. Sie beugte sich zum geliebten Großvater und gab ihm einen letzten Kuss auf die kalte Stirn. Dabei rutschte ihre lange Halskette mit dem Bernsteinanhänger – ein Geschenk von Opa Ernst – aus ihrem Mantel hervor.
Maria bemerkte zu spät, dass der Anhänger sich irgendwo verhakt hatte. Sie wollte sich aufrichten und stockte. Sie zog vorsichtig, dann mit Kraft. Es half nichts, die Kette kam nicht mehr frei.
„Kann mir mal jemand helfen“, rief sie verzweifelt. Es sah schon etwas komisch aus, wie sie so über die Leiche gebeugt am offenen Sarg stand, ohne loszukommen.
Der junge Mann, der geduldig wartend an der Wand lehnte, zeigte Erbarmen. Flugs trat er heran, griff nach Marias Kette und zog heftig daran. Zu heftig. Die dünne Goldkette riss und der Bernsteinanhänger kullerte in den Sarg.
„Oh nein“, jammerte Maria, die aber froh war, sich wieder aufrichten zu können.
Der junge Mann bekam rote Wangen. „Bitte verlassen Sie nun alle die Trauerhalle“, verkündete er der Trauergemeinde und an Maria gewandt meinte er: „Ich werde Ihnen den Anhänger wieder besorgen, versprochen.“
Als sich die Halle geleert hatte, machte er sich auf die Suche nach dem Schmuckstück. Er ließ so viel Pietät wie möglich walten und ging vorsichtig vor. Mit gestreckten Fingern fühlte er seitlich an Opa Ernsts Oberkörper vorbei, dann fuhr er die Kanten des Sargs entlang. Er stockte. Was er fühlte, war Plastik – das da aber nicht hingehörte.
Verwundert ging er der Sache auf den Grund, bekam aber das ominöse Plastikteil nicht recht zu fassen. Opa Ernst war im Weg. Es blieb dem jungen Mann nichts anderes übrig, als den Toten vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter auf die Seite zu drehen. Dabei verrutschte die Unterlage, auf der Opa Ernst lag, und ein Stück einer Plastiktüte wurde sichtbar. Was war das denn? Er schob weiter. Ein ganzer Plastiksack tauchte auf, wurde immer größer.
Dem jungen Bestatter blieb nichts anderes übrig, als Opa Ernst vollends zur Seite zu wuchten. Dann versuchte er, den merkwürdigen Sack aus dem Sarg zu heben. Das Ding steckte fest.
Ungeduldig zerrte und rüttelte er am Plastik, bis der Sack aufriss: Ein menschlicher Kopf, blutig, hautlos, das Fleisch in Fetzen, starrte ihn aus leeren Augenhöhlen an.