Bayerische Geschichte(n), 13/2020: Der Nationalsozialismus auf dem Dorf

Liebe Leserin, lieber Leser,

Pöcking 1935. Die „Machtergreifung“ der NSDAP stellte die dörfliche Gemeinschaft in den kommenden Jahren auf eine harte Probe (Foto: Gemeindearchiv Pöcking).

nach der Machtübernahme versuchten die Nationalsozialisten, den Einfluss der Partei auf Gemeindeverwaltung und Schulen auszudehnen und in die dörfliche Gemeinschaft hineinzutragen. Anders als in den Städten drang der Nationalsozialismus weniger leicht in die über Generationen hinweg gewachsenen dörflichen Beziehungsgeflechte und funktionierende Dorfgesellschaften ein. Wesentlich trugen dazu etwa in Pöcking die bäuerlichen Eliten bei, die zwischen Anpassung und zivilem Ungehorsam versuchten, ihr Dorf durch die NS-Zeit zu bringen.

Am 9. November 1933 erfolgte die Vereidigung aller Bürgermeister auf dem Königsplatz in München. Auch der Pöckinger Bürgermeister Michael Ruhdorfer musste den Amtseid auf den Führer schwören (Foto: Bayerisches Hauptstaatsarchiv).

Das geltende „Führerprinzip“ eröffnete den Bürgermeistern, häufig in Personalunion auch Ortsgruppenleiter, neue Handlungsspielräume. In Pöcking nutzte Michael Ruhdorfer jun. diese Möglichkeiten, nachdem er das Amt des Bürgermeisters 1935 von seinem Vater übernommen hatte. Als Amtsträger musste er der NSDAP beitreten, war sogar Angehöriger der SA-Reserve, aber dank seiner Autorität und Gelassenheit hatte er den Kreisleiter Buchner nicht zu fürchten: Ruhdorfer schützte nachweislich fast alle nach NS-Gesetzen als Juden und Halbjuden geltenden Dorfbewohner, half unter persönlichem Risiko politisch Verfolgten und unterdrückte Denunziationen. Ganz anders nutzte Josef Grenzebach, Bürgermeister im nahen Aschering, seine 1933 gewonnene Machtposition.

Der Wandel eines Hauses. Schloss Possenhofen mit Blick auf die Kavaliersbauten (Foto: Peter Fenkl).

Die Nähe Pöckings zum Starnberger See zog viele Prominente an. Der Schriftsteller Ödön von Horváth verbrachte in Pöcking 1935 und 1936 den Sommerurlaub. Der Unternehmer Willy Heidinger arbeitete als Chef der deutschen Tochter von IBM mit den Nationalsozialisten zusammen und bot das Lochkartensystem zur Erfassung der Bevölkerung an. Der Biologe Eduard May führte nahe dem KZ Dachau Forschungen zur biologischen Kriegsführung durch. Der Physiologe Otto Ranke entdeckte das Aufputschmittel „Pervitin“ für die Wehrmacht, Franz Lawaczeck, Ingenieur und Zweiter Bürgermeister Pöckings, arbeitete eng mit den NS-Machthabern zusammen, um seine Ideen zur Energiegewinnung umzusetzen (Lesetipp: Der im Frühsommer erscheinende Tatsachenroman „Fuchsrot und feldgrau“ widmet sich dem Schicksal seines Neffen, der als Soldat den Zusammenbruch der Ostfront erlebte). In den letzten Kriegsjahren wurde das zu Pöcking gehörende Possenhofen mit dem Sisi-Schloss zur Lazarettstadt für die Versorgung verwundeter Flieger, Tausender verletzter Kriegsheimkehrer und schließlich zur ersten neuen Heimat für Flüchtlinge.

Marita Krauss und Erich Kasberger bieten mit „Ein Dorf im Nationalsozialismus. Pöcking 1930 – 1950“ neue Zugänge zu der Frage, wie der Nationalsozialismus in einer Dorfgesellschaft wirkte. Der Blick auf Pöcking und die Nachbardörfer Aschering und Maising zeigt lokale Handlungsspielräume und Konfliktlinien, den Kampf um Straße und Wirtshaus, die Wirkung der Mobilisierung, aber auch die Skepsis der Bauern. Sichtbar wird zudem, weshalb in Pöcking zahlreiche Juden überleben konnten. Bisher einzigartig ist die Analyse von über 12.000 Entnazifizierungs-Meldebögen im Stadt-Land-Vergleich, die den Organisationsgrad der Bevölkerung sichtbar macht.