Bayerische Geschichten 6/2024: Faszination Tracht

Liebe Leserinnen und Leser,

die Vertreibung der Deutschen aus der Wischauer Sprachinsel (Region Südmähren, heute Tschechien) im Jahr 1946 führte zum Untergang dieser besonderen Kultur- und Trachtenlandschaft. In der Bundesrepublik jedoch, in der die einstigen Bewohner ein neues Leben fanden, wurde und wird die Tracht gepflegt und versinnbildlicht als „Kleid der Heimat“ die Verbindung zu den verlorenen Herkunftsorten. Die Fotografin Annette Hempfling erschließt in ihren detailreichen Aufnahmen das Faszinosum Tracht – als ästhetisches Kunstobjekt wie als Ausdruck von Identität. Lilia Antipow, Patricia Erkenberg, Jan Kuča, Christina Meinusch und Alexander Karl Wandinger gehen in ihren Beiträgen ergänzend der Geschichte und den Besonderheiten der Wischauer Tracht nach.

Das Anlegen der Tracht war ein komplizierter Vorgang, bei dem die Trachtenträgerin auf Hilfe angewiesen war. Besonders eindrucksvoll ist unter anderem die Kopftracht der Frauen, zu der eine bestickte Haube gehört, die mit Bändern umwickelt wird (Fotos: Annette Hempfling).

Bis zur Vertreibung im Jahr 1946 trugen die Wischauer in der Oberen Sprachinsel selbst im Alltag Tracht. Bereits ab ungefähr dem vierten Lebensjahr war sie die übliche Kleidung der Mädchen und Jungen, das Aussehen der Tracht änderte sich jedoch im Lebenslauf. Farbenfroh und üppig ist vor allem die Wischauer Festtagstracht. Bei den Männern beschränkt sich die Extravaganz hauptsächlich auf ihre Kopfbedeckungen mit bunten Seidenblumen und Flitter, für die Frauen dagegen ist das Anlegen der Festtagstracht eine mehrere Stunden dauernde, rituelle Zeremonie. Die Trachtenträgerin wird dabei von anderen Frauen unterstützt, das Anlegen der Tracht ist zugleich ein soziales Event.

Die Halskrause („Tazl“, „Tatzl“ oder „Kreasl“) war am Werktag aus gewöhnlichem Leinen, zu besseren Anlässen mit schöner Spitze besetzt, aber immer steif gestärkt und sorgfältig mit einer Brennschere in Falten gelegt (gekulmt).

Die kurzärmelige Bluse der Festtagstracht ist aus gestärktem Leinen mit Stickborten an den Ärmelabschlüssen. Über ihr wird ein Mieder – meist aus Samt oder Seide – getragen und darüber eine langärmelige Jacke. Der Rock ist aus feiner Leinwand, gelackt oder geleimt und in über 300 Falten gelegt. Über dem Rock wird eine ebenfalls steif gestärkte Schürze getragen. Mit den zusätzlich – mindestens drei – angelegten Unterröcken ist es den Frauen nicht mehr möglich, sich hinzusetzen. Besonders auffällig ist der Kragen, der an die spanische Mode des 16. Jahrhunderts erinnert. Er wurde allerdings als modisches Accessoire erst Anfang des 19. Jahrhunderts als historisierendes Element übernommen.

Florale Stickmotive dominierten die Wischauer Tracht.

Gestickte Motive und die Tracht an sich stellten in den kleinen bäuerlichen Dorfgemeinschaften eine Form wortloser Kommunikation dar. Zu dieser gehörte nicht nur die Wahl der benutzten Motive, sondern auch die Wahl der Farben. In der Wischauer Tracht finden sich besonders die Farben Rot, Schwarz, Gelb und Blau. Ihre symbolhafte Bedeutung ist für diese Tracht leider nicht mehr überliefert. Betrachtet man die mitteleuropäische Symbolik steht Rot für Liebe, Leben und Tod. So verwundert es nicht, dass diese Farbe Liebesgaben wie die bestickten Hosenträger und die brauchverbundene Stickerei insgesamt dominiert. Die Stickmotive der Wischauer Tracht orientieren sich an den Motiven, die um 1900 in ganz Europa verbreitet waren, und lassen sich in geometrische, figurale und florale unterteilen, wobei die florale Motivik bei Weitem überwiegt.