Bayerische Geschichten 27/2022: Aus dem Leben eines Hauses

Liebe Leserinnen und Leser,

kein Mensch möchte die Frauenkirche in München oder das Schloss Neuschwanstein abreißen. Zum Glück! Aber die einfachen Häuser, die davon berichten können, wie die Leute vor 100, 200 oder 500 Jahren gelebt haben, fallen viel zu oft der Abrissbirne zum Opfer, weil sie nicht mehr zeitgemäß sind.
In diesem Buch kommt eines von ihnen zu Wort: Das Burggütl erzählt seine abenteuerliche Geschichte, die weit vor dem Dreißigjährigen Krieg beginnt, und zeigt dabei, welch ein historischer Schatz mit seinem Abriss verloren gehen würde.

Illustration: Stefanie Peter

„Kein Mensch kann sich an seinen ersten Geburtstag erinnern. Ich weiß nicht, wann ich Geburtstag habe, ich weiß nur, dass ich wesentlich älter bin als 80 oder 90 Jahre. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Haus. Mein Name ist Burggütl. Das ist ein besonders schöner Name. Es gibt Häuser in meiner Nähe, die heißen „Bloß-a-alt´s-Glump“. Wenn man „Bloß-a-alt´s-Glump“ heißt, wird man nicht alt. So habe ich viele gute Freunde verloren. Freunde mit gutem Charakter, in denen nette Menschen zusammengelebt haben. Aber irgendwann hatten meine Freunde plötzlich einen Dachschaden, nasse Füße oder Wunden am ganzen Körper und wurden eines Tages einfach beiseite geräumt.“

Illustration: Stefania Peter

„Schon einige Jahrhunderte stehe ich nun an meinem Platz. Wurde viele Male auf- und umgebaut. Und dann ist etwas Fürchterliches passiert: Keiner hat mich mehr umgebaut und meine Menschen sind einfach ausgezogen. Sie arbeiteten von nun an in einer Fabrik und lebten in einer Wohnung, für die sie Miete zahlen mussten. […] Seitdem stehe ich hier herum und bin ganz einsam. Mein Holz fängt an zu faulen und meine Mauern werden rissig. Dabei würde ich so gerne noch viele Jahre leben und meine Geschichten weitererzählen. Wenn nicht bald Hilfe kommt, dann ist es um mich geschehen.“

Illustration: Stefania Peter

„Und dann ist es wirklich wahr geworden. Ich wurde gekauft. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Wenn man ein altes Haus wie mich gekauft hat, dann geht die Arbeit erst richtig los. Bevor man damit beginnt, mich wieder herzurichten, muss man in Erfahrung bringen, was mir im Laufe der Zeit so passiert ist. Ist es denn eigentlich wichtig, dass ich wieder gesund werde? Manche Leute behaupten ja, dass man über unsere Vergangenheit genauso viel erfahren kann, wenn man in eine Bibliothek geht und in Büchern liest. Aber ich sage euch: Ich bin viel besser als ein Buch, denn an mir gehen viele von euch jeden Tag vorbei, und ich begleite euch ein ganzes Leben lang und erzähle meine Geschichten.“