Bayerische Geschichte(n), 1/2019: Wo Bäume singen und Holzfräulein zaubern

Der Holzfrevler: Für das Verbrechen, in der Christnacht heimlich Holz geschlagen und gestohlen zu haben, soll einst ein Bauer dazu verflucht worden sein, auf einem Baumstock festzuwachsen (alle Illustrationen: Klaus Eberlein).

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Wald ist ein Sehnsuchtsort – heute mehr denn je. Die konzentrierte Stille unter dem Dach alter Bäume lässt unsere Gedanken frei und unseren Atem ruhig werden. Ob wir bei einem Spaziergang im lichtdunklen Forst immer noch dem ein oder anderen Waldgeist begegnen, ohne es zu merken? Für die Menschen früherer Zeit war der Wald beseelt und bevölkert mit guten, aber auch weniger wohlmeinenden Wesen. Manche boten Hilfe in größter Not, andere mussten mit kleinen Gaben oder respektvollen Taten besänftigt werden und alle zusammen forderten stets die tiefe Verneigung vor der Kraft der Natur. Wehe dem, der es wagte, die Unversehrtheit von Blatt und Borke zu gefährden…

Mit süßen Äpfeln lassen sich im Märchen sogar verwöhnte Prinzessinnen locken. Doch Vorsicht vor verzaubertem Obst! Der eitlen Schönen aus der Geschichte „Das Windhütl“ wachsen nach dem Genuss verräterische Teufelshörner.

Romantisch kommt der Wald in den Märchen aus der Sammlung von Franz Xaver von Schönwerth (gest. 1886) selten daher. Oft haderten die Menschen des 19. Jahrhunderts mit der alltäglichen Fron, die das Leben am und im Wald mit sich brachte, mit den schlechten Böden und kargen Ernten, mit bitterer Kälte und streng reguliertem Jagdrecht. Umso wertvoller waren da die Gaben des Waldes: Brennholz, Pilze, Wurzeln und Kräuter sowie die begehrten süßen Früchte des Sommers. Erstaunlich viele Märchen schicken ihre Heldinnen und Helden erst einmal auf der Suche nach Erdbeeren in die Tiefen des dunklen Waldes. Auch wild wachsende Äpfel waren eine willkommene Delikatesse. Wobei man sich davor hüten musste, kein von einer Waldhexe verzaubertes Exemplar zu erwischen.

Drei Federn, die er von einem sprechenden Raben erhalten hat, sollen dem jungen Helden in „Das verwunschene Schloss“ auf seinem Weg durch den wilden Wald helfen.

Verzaubert sind in den Waldmärchen aber nicht nur die Äpfel. Ganze Schlösser versinken, mit einem Fluch belegt, unter wuchernden Ranken und Moos, während sie auf den rechten Helden warten. Tannenzapfen verwandeln sich in der Schürze des fleißigen Mädchens und in den Taschen des braven Holzhauers in pures Gold, nachdem ein Holzfräulein ihren Segen dazu gegeben hat. Und wer einem bösen Zauberer im Unterholz in die Quere kommt, droht, als sprechender Rabe aufzuwachen. Denn der Wald, in dem die Naturgesetze ihre Wirkung verlieren, bietet beides: Gefahr und Vergeltung – Zuflucht und Erlösung.

30 Waldmärchen hat Erika Eichenseer mit gewohnt sicherem Gespür für „Der singende Baum“, den dritten Band ihrer bayerischen Märchenbuchreihe, ausgewählt. In der sanften Bearbeitung und mit Informationen zur Herkunft und Bedeutung der Texte erwachen diese uralten Schätze zu neuem Leben. Holzfräulein und Hoimänner, mutige Jäger und schlaue Kräuterhexen streifen hier durchs Unterholz – und wurden vom Künstler Klaus Eberlein in charaktervollen Linolschnitten für das Buch eingefangen.