Bayerische Geschichten 09/2022: Mit eigenem Gesetz zum Erfolg

Liebe Leserin, lieber Leser,

am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich ein neuer Frauentyp herausgebildet: Emanzipiert in der Lebensweise, oft als Frauenrechtlerin, Schriftstellerin oder Künstlerin im ganzen Wilhelminischen Kaiserreich bekannt. Diese Frauen lebten bereits damals so, wie es heute viele Frauen tun, berufstätig und finanziell unabhängig. Zwei dieser modernen Frauen gründeten im Jahr 1887 das legendäre Fotoatelier Elvira in München. Das frischeröffnete Atelier Elvira, insbesondere die „Neuigkeit der weiblichen Leitung und Ausübung der Photographie“, sorgte für großes Aufsehen. Ihre neu gewonnene Bekanntheit nutzten sie, um sich aktiv in der Frauenbewegung zu engagieren. Mehr als einmal schlug ihnen dabei Widerstand entgegen. Doch davon ließen sich diese erstaunlichen Frauen nicht aufhalten…

Namensgeberin für das Atelier Elvira: Prinzessin Elvira von Bayern.
Die bayerische Königsfamilie lässt sich regelmäßig porträtieren – deshalb erhält das Unternehmen bald den Titel „Hof-Atelier“.
(Foto: Privatarchiv Sauter/Karrasch)

Während es anfänglich Skandalcharakter hat, sich oder seine Kinder von diesen beiden unkonventionellen Frauen fotografieren zu lassen: Bald gilt ein Besuch im Elvira jedoch als äußert modern und angesagt. Die 26-jährige Sophia Goudstikker und ihre acht Jahre ältere Lebenspartnerin Anita Augspurg sind bestens vernetzt und können u. a. viele internationale Künstlerinnen und Künstler zu ihren Kunden zählen. Schon zwei Monate nach der Eröffnung im Juli 1887 werden angesehene Kunden abgelichtet. „Überhaupt erfreut sich das Atelier eines regen Interesses der eleganten Welt und der Künstlerkreise” und die dort entstehenden Aufnahmen können „sowohl in künstlerischer Auffassung wie technischer Ausführung mustergültig genannt werden“.

Ihre Haare tragen sie kurz. Sie kaufen einen Hund, Pferde und Fahrräder. Sie machen die Fahrradprüfung und reiten im Herrensitz. 
Außerdem tragen sie merkwürdige Reformkleidung, Radlerhosen oder auch männlich geschnittene Kleidung.
(Foto: Ingvild Richardsen )

Um was für Frauen es sich bei den beiden Fotografinnen tatsächlich handelt, muss sich rasch herumgesprochen haben. Weder hielten sich Anita Augspurg und Sophia Goudstikker mit ihrer Ablehnung überlieferter bürgerlicher Frauenrollen zurück noch verschleierten sie, dass sie in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft lebten. Im Gegenteil, sie trugen ihre Gesinnungen offen zur Schau. Optisch und von ihrem Verhalten her verkörpern sie einen völlig neuen Typ Frau. Das Selbstbewusstsein, mit dem die beiden Neu-Münchnerinnen von Anfang an als unverheiratete Geschäftsfrauen auftreten, und die Art, wie sie sich über alle geltenden Vorstellungen von dem, wie eine bürgerliche Frau auszusehen und sich zu verhalten hat, hinwegsetzen, ist selbst im liberalen München ein Novum.

Die Filiale in Augsburg war ein Start-up für Mathilde Goudstikker, eine junge ledige Frau, die unabhängig von männlicher Unterstützung ihre Zukunft gestalten kann.
(Foto: Privatarchiv Goeschel)

Da die Räumlichkeiten in München noch begrenzt sind, gehen die beiden Unternehmerinnen den nächsten Schritt ihres Erfolges an: Eine Filialgründung wird für das Frühjahr 1891 im benachbarten Augsburg angestrebt. Die ehemalige Reichsstadt ist bestens mit der Eisenbahn erreichbar. Dort soll Sophias jüngste Schwester Mathilde der Einstieg ins Berufsleben ermöglicht werden. Mit der Filiale in Augsburg eröffnen die beiden Gründerinnen zusammen mit Mathilde Goudstikker 1891 das erste von Frauen geführte Fotostudio der Stadt. Zahllose Fotografien und persönliche Dokumente wurden zusammengetragen, um Mathildes bisher unbekannte Lebensgeschichte zu erzählen. Das Atelier Elvira Augsburg wurde zu einem der größten unternehmerischen und künstlerischen Erfolge in allein weiblicher Hand des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.