Bayerische Geschichten 01/2024: Der Roman zum Erich-Kästner-Jahr 2024

Liebe Leserin, lieber Leser,

zusammen mit Autor Tobias Roller beginnen wir das neue Volk-Literaturjahr mit einem Paukenschlag: Der Roman „Der Goldhügel“ erzählt in virtuoser Sprache und mit feinem Humor eine wahre, aber kaum bekannte Episode im Leben des Schriftstellers Erich Kästner, der am 23. Februar 2024 seinen 125. Geburtstag gefeiert hätte – und dessen Todestag sich am 29. Juli 2024 zum 50. Mal jährt.
Februar 1962: Erich Kästner ist an Tuberkulose erkrankt und soll sich auf dem Collina d’Oro, dem Goldhügel über dem Luganer See, erholen. Doch eine akute Schreibkrise, Selbstzweifel und so manch weiblicher Dämon der Vergangenheit stehen der Genesung im Wege. Ohne den in seine „Zelle“ geschmuggelten Whisky und Unmengen von Zigaretten wäre das alles nicht zu ertragen – bis ein ebenso entzückendes wie belesenes Fräulein zu Kästners Tischgesellschaft stößt. Und während der alternde Schriftsteller den Weg aus der Misere sucht, wird der Goldhügel allmählich zu seinem ganz persönlichen Zauberberg. Tobias Roller ist eine famose literarische Hommage gelungen, originell und doch ganz im Stil des großen Dichters.

Leseprobe

Am Morgen, gleich nach dem Frühstück, zeigt sich eine vorsichtige Sonne am sonst opaken Himmel. Man hat den prominenten Patienten deshalb für die Liegekur stramm in Wolldecken gepackt und vor dem Haus aufgebahrt. So muss es jedenfalls aussehen, fürchtet er. Immerhin kann er auf diese Weise schon einmal üben, um im Ernstfall einen würdigen Leichnam abzugeben. Man weiß ja nicht, wie kurzfristig man es brauchen kann, schmunzelt er in sich hinein, erschrickt aber auch über seinen Gedanken. Beinahe hätte er sich wieder mal mit dem eigenen Humor erschlagen.
Er soll die gute, aber noch eisige Luft und das Vitamin D, das die Sonnenstrahlen angeblich transportieren, in sich aufnehmen. Der Professor besteht darauf. Na ja.
»Genießen Sie, mein Lieber, genießen Sie das Ruhen und das Atmen!«, hat der Professor mit ausladenden Gesten versucht, ihn zu motivieren.
Er fügt sich also, auch wenn er die Langeweile auf der Liege fürchtet und mehr noch das Gedankenkarussell, das sich mit schöner Verlässlichkeit in ihm zu drehen beginnt, wenn ihm Ruhe und Nichtstun verordnet werden. Der Blick in den kleinen Park voller Magnolien, Zypressen und Kamelien ist ja ganz hübsch, aber auch nicht gerade abendfüllend.
Er wendet den Kopf nach rechts und sieht nicht ohne Freude, dass direkt neben ihm das junge Fräulein soeben in Decken eingewickelt wird. Dieses fragile und doch so lebendige Geschöpf. Bei genauerer Betrachtung stellt er fest, dass das Fräulein auf seine ganz eigene Weise apart ist. Ausgestattet mit ebenmäßigen Zügen, kräftigen Augenbrauen, diesem kleinen geschwungenen Mündchen und eben diesen wunderbaren Grübchen ist es eine überaus erfreuliche Erscheinung. Nur das undefinierbare Blond der erneut hochgesteckten Haare fällt dagegen ein wenig ab, vielleicht.
Er weiß genau, dass er nur nach Gründen sucht, diese junge Frau etwas weniger anziehend finden zu können. Die Phrase, dass eine wie sie seine Enkeltochter sein könnte, findet er seit jeher ärgerlich. Gibt es keine fantasievollere und nicht gar so abgedroschene Beschreibung für das Verhältnis zwischen zwei Menschen, und, bitte schön, eine, die weniger moralinsauer ausfällt? Er hat genügend Herren vorgerückten Alters gekannt, die sich aus leicht durchschaubaren Gründen in eine solche Affäre gestürzt haben. Er selbst eingeschlossen. Meistens ging das nicht gut aus, aber solange es währte, hatten doch immer beide etwas davon.
Dann hält er das Gedankenkarussell an, denn er kommt hier noch auf den Hund, wenn sich sein Vergnügen auf den heimlichen Konsum von Whisky und Zigaretten beschränken soll. Also versucht er, ein erstmals aufrichtig erhofftes Gespräch mit der jungen Frau zu eröffnen: »Dieser Anblick«, spricht er in die feuchte Luft und deutet mit dem Kopf auf den kleinen Park, der vor ihnen liegt, »hätte Adam und Eva zur Ehre gereicht. Stattdessen liegen nur wir beiden hier, noch dazu in einer Zwangsjacke.«
Vielleicht treffen diese Worte ihren Humor nicht ganz, so sie überhaupt einen solchen ausgebildet hat, und etwas frivol sind sie ja auch, aber sie lächelt ihn an und sagt: »Ja, das ist wohl richtig. Man hat mich tatsächlich ein bisschen zu fest eingewickelt. Ich bekomme kaum noch Luft, dabei soll ich doch hier draußen besonders tief atmen, nicht wahr?«
Ihm gefällt die Unkompliziertheit, mit der sie sich ausdrückt. Zu fest eingewickelt oder nicht, auf der Liege wirkt sie freier und offener als in der Gegenwart der anderen Tischdame im Speisesaal.
Für eine Weile blicken sie schweigend auf das Tal und den Lago. Nur wenige Wolkenschlieren verdecken noch die Sonne, die den Hügel bald wieder verzaubern und seinem Namen alle Ehre machen wird. Er kann sich eines Lächelns nicht mehr erwehren und fühlt sich in diesen Tagen zum ersten Mal recht behaglich. Noch nicht einmal an Friedel denkt er in diesem Augenblick, und an Lotte erst recht nicht.
Nun verspürt er die Lust, noch etwas kühner zu werden. »Ich würde Sie gerne aus Ihrer misslichen Situation befreien, aber wir wollen ja keinen Ärger mit den Schwestern bekommen, oder?« Für eine Vorstellung dieser Befreiung steht ihm genügend Fantasie zur Verfügung.
Das Fräulein sagt mit einem Lächeln in der Stimme: »Nein, das wollen wir nicht. Aber vielen Dank für das freundliche Angebot.«
Obwohl er weiß, dass sie so etwas arg Diplomatisches sagen muss, verspürt er leise Enttäuschung und könnte sich dafür verfluchen. »Dann wollen wir doch besser ein paar tiefe Atemzüge nehmen«, empfiehlt er, ohne sich von seiner Enttäuschung etwas anmerken zu lassen, »auf dass der Professor auch zufrieden mit uns ist. Man kann die Decken ja ein wenig lockern.«
Darauf sagt das Fräulein erst einmal nichts, und das muss es auch nicht. Er weiß durchaus, dass er sich mit derlei subtilen Anzüglichkeiten in Gefahr bringen kann. So hofft er, dass sie die Frivolitäten entweder nicht als solche erkennt oder sie souverän ignoriert. Ein bisschen mehr hofft er allerdings auf Letzteres.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«, sagt sie plötzlich etwas leiser.
»Ich fürchte mich nicht vor persönlichen Fragen«, lügt er sie freundlich an, »immer zu.« Möge sie ihm nur nicht zu sehr auf die Pelle rücken, denn auf dem Sockel will der Verehrte selbstverständlich verbleiben.
»Wie wahr sind Ihre Gedichte?«, will sie dann wissen und sieht dabei auf fast rührende Weise ernst aus. Auch das zieht ihn an. »Sprechen Sie immer selbst aus Ihren Versen? Erfahren wir etwas über Sie als Mensch, wenn wir sie lesen?«
Nun dreht sich das Fräulein mühevoll unterhalb der Decken zu ihm. Er selbst liegt hingegen stoisch auf dem Rücken, spürt mehr, dass sie ihn direkt ansieht, spricht in den Morgenhimmel hinein und würde seine junge Nachbarin auch lieber nicht ansehen wollen, als er sagt: »Das ist eine ausgesprochen mutige Frage, junge Dame.«
Schon wieder muss er sie anschwindeln, denn eigentlich geht ihm diese Frage schon seit langer Zeit unendlich auf die Nerven. Sie wurde ihm zu oft gestellt und er findet sie ausgesprochen dämlich und obendrein naiv. Als ob es darum gehe, wie viel vom Poeten in dessen Werken steckt. Aber vielen geht es offensichtlich genau darum, muss er immer wieder achselzuckend konstatieren. Sie wollen die Sensation und das Intime. Die Schönheit, das Ästhetische der Verse, vor allem aber, was sie sagen und lehren wollen, nehmen solche Menschen allenfalls als Goldrand wahr. Oder gar nicht.
In ihm breitet sich eine Ernüchterung aus, die dem ersten Whisky vor dem Frühstück, den er benötigte, um dieses überhaupt herunterzubringen, so gar nicht entspricht. Was wäre dem Fräulein nun zu antworten? Sollte man weiterflunkern und sich heimlich in die kühle Verachtung zurückziehen? Immerhin spricht er mit einer jungen Dame, die seine Werke verehrt und möglicherweise auch ihn selbst. Nach all dem Irrsinn, den ihm Lotte zuletzt geboten hat, all den Verwerfungen und Verfolgungen, die an seinen Nerven rüttelten, nur weil sie es nicht ertrug, nicht seine Einzige zu sein, und weil er mit Friedel einen Sohn hat, tut ihm die Leichtigkeit der Jugend in Gestalt des Fräuleins wohl. Dieses zarte Wesen mit einer abfälligen Antwort gar vor den Kopf zu stoßen, würde ihm einiges abverlangen.
Doch manchmal muss man nur lange genug warten, denn nach seiner Pause, die sie mit dem Versuch, gleichmäßig zu atmen, verbracht hat, spricht die junge Frau wieder von selbst weiter, und er lässt sie gewähren. Man hat ja sonst nichts zu tun.
»Sie müssen ein wunderbarer Vater sein«, fährt sie fort, und er weiß schon wieder nicht, was er darauf antworten soll. Stellt sie ihm eine Frage oder eine Falle gar? Was weiß sie über ihn? Er ist ja ein Vater, und doch ist er es nicht.
»Junge Dame«, sagt er also, »nun wird es mir doch ein wenig zu persönlich, wenn ich das so ausdrücken darf.« Es entfährt ihm fast zu schroff, der er doch eigentlich das Gegenteil ausstrahlen will. Am liebsten würde er nur zu gerne noch etwas persönlicher werden mit diesem doch leider sehr appetitlichen Geschöpf – da kommt wie bestellt der Husten zurück, der ihn fürs Erste beschäftigt und der jungen Frau etwas Zeit gibt, seine Zurückweisung zu verdauen.
Sie sagt etwas in seinen Husten hinein, doch er kann es nicht verstehen, legt die Stirn in Falten und verflucht die Situation, in die er da geraten ist.
Die gestrengen Schwestern, vor deren Unerbittlichkeit er sich sonst beinahe fürchtet, sind seine Rettung, denn sie eilen nun herbei, setzen ihn auf, stellen die Rückenlehne gerade und ziehen seine Arme nach oben. Sogleich klingt der Anfall ab. Er sieht in das betroffene Gesicht des Fräuleins, das in seinem jugendlichen Unverstand zu glauben scheint, ihn höchstpersönlich ausgelöst zu haben. Nun sollte er sich wohl äußern.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beschwichtigt er also, »es ist alles in Ordnung. Dieser Husten gehört dazu und Sie haben auch nichts falsch gemacht. Es war eine durchaus nette Unterhaltung, die wir miteinander hatten.« Das sollte nun aber die letzte Lüge für heute sein, nimmt er sich vor. »Tanken Sie noch etwas Morgenluft. Ich vertrage sie wohl noch nicht so gut.«
Sie hat sich alles mit großen, schimmernden Augen angehört und scheint all ihre zuvor gezeigte lebhafte Offenheit in Ergebenheit zurückverwandelt zu haben. »Es tut mir furchtbar leid. Wollen Sie mir das glauben? Ich werde nie wieder so dreist sein und Ihnen zu nahe treten«, sagt sie mit einem Zittern in der Stimme.
Ach, täte sie es doch …
»Bitte, es ist gut«, presst er zwischen zwei Hustern hervor, die er auch hätte unterdrücken können, doch sie erlauben es ihm, sich zurückzuziehen. »Ich bin heute vielleicht etwas empfindsam«, sagt er noch, obwohl er weiß, dass er wahrheitsgetreu empfindlich hätte sagen müssen. Man hat ihm dieses Attribut oft genug zugeschrieben.
Ein Urteil, das ihn jedes Mal geärgert hat, vor allem aus einem Frauenmund, aber er wusste dieser Aussage auch nie etwas Überzeugendes entgegenzusetzen. Vielleicht hatten sie tatsächlich recht. Und doch: Frauen setzen seiner Empfindsamkeit immer wieder ihre eigenen anstrengenden Zustände entgegen. Trotzdem kann er nicht ohne sie. Und je älter er wird, desto jünger sind die, an denen er Freude hat. Sie sind sein Leben, sein Verderben und eines vielleicht nicht mehr so fernen Tages wohl auch sein Sterben. Einen Grund dafür muss man schließlich haben.
Während er sich, begleitet von derlei Überlegungen, davonzustehlen versucht, sieht er mit einem Mal Bewegung im Gebüsch. Er sieht schwarzes Fell durch die kahlen Zweige schimmern und vermutet zunächst eine Katze. Es ist aber ein Tier von Ausmaßen, die ihn erschrecken lassen. Er hält den Atem an, muss ein weiteres Mal husten, was die Schwestern erneut auf den Plan ruft, und kann kaum fassen, was er da sieht: Es ist ein schwarzer Panther, der nun so selbstverständlich durch den Garten streift, als gehörte er dorthin. Er bewegt sich langsam, selbstvergessen und wird wohl nur vom Dichter bemerkt, der zwei Mal die Augen zusammenkneifen muss, bis das schöne dunkle Tier wieder verschwunden ist.
So weit ist es also schon gekommen.
Die Schwestern helfen dem prominenten Patienten mit flinken Händen vollends aus den Decken, streichen seinen Morgenmantel glatt und führen ihn sanft, aber sicher an beiden Armen festgehalten, zurück ins Haus. Da will er jetzt auch hin, denn in der freien Wildbahn sollte er sich besser noch nicht zu lange aufhalten. Immerhin kann man dort Raubtiere treffen.
Er sieht nicht, mit welchem Blick ihm das Fräulein schon wieder nachschaut, und er weiß nicht, was es in seinen Husten hinein gesagt hat. Er beschließt, lieber nicht danach zu fragen.