Bayerische Geschichten 02/2023: Mythos Haberfeldtreiben
Liebe Leserin, lieber Leser,
vor etwas mehr als hundert Jahren fand in der Nacht vom 23. auf den 24. September 1922 in Dettendorf bei Aibling das letzte echte Haberfeldtreiben statt. Selbst Einheimische wissen heute nichts oder nur noch wenig über diese Art der „Volksjustiz“. Dafür ranken sich um den Brauch, der fast ausschließlich in Orten der damaligen Landgerichtsbezirke Miesbach, Rosenheim, Ebersberg, Wasserburg, Tölz und München praktiziert wurde, Legenden in umso größerer Zahl. Der Haberfeld-Experte Elmar Schieder räumt in „Als wär die Höll‘ ausgelassen“ mit den Gerüchten rund um diese fast gänzlich ausgestorbene Tradition auf – denn die Wahrheit ist spannender als jeder Mythos.
Den ersten Schilderungen zufolge handelte es sich beim Haberfeldtreiben um einen Lärmaufzug von Burschen aus dem Ort oder der näheren Umgebung. Die jungen Männer zogen vor das Haus ihres Opfers, schrien und krakeelten dort und ließen es – in Vers oder Prosa – wissen, was sie ihm vorwarfen. Anlass für ein solches Treiben waren zumeist sexuelle Verfehlungen, vor allem von Frauen. Im 19. Jahrhundert hatte dann die vermehrte strafrechtliche Verfolgung zur Folge, dass sich die Haberer besser organisierten und den Brauch im Geheimen ausübten. Nun trieb man nicht mehr direkt vor dem Haus des Opfers, sondern an einem gut zu überblickenden Platz außerhalb der Ortschaft. Damit erweiterte sich der Kreis der betroffenen Personen deutlich – manchmal kam das halbe Dorf in den „Genuss“ eines Treibens.
Woher aber stammt der Begriff „Haberfeldtreiben“? Ein Erklärungsansatz, der – auch wenn er sich mittlerweile als falsch herausgestellt hat – immer noch weit verbreitet ist: die Abstammung vom lateinischen „caper“ oder vom keltischen „hef(e)r“. Demzufolge soll das „Haberfeld“ nichts anderes als das „Ziegenfell“ sein, das die Haberer angeblich trugen, um Ihre Identität zu verbergen. Tatsächlich liegt die Sache aber ganz anders: Der Ausdruck „jemanden ins Haberfeld treiben“ bedeutet so viel wie „jemanden sitzen lassen“. Das „Haberfeld“ ist somit ein undefinierter Ort, ein örtliches wie gesellschaftliches Nirgendwo, an dem sich etwa eine ledige Bauerstochter, die schwanger von ihrem Liebhaber verlassen wurde, plötzlich wiederfand. Die Burschen verspotten mit ihren Versen und ihrer Katzenmusik also die „ins Haberfeld Getriebenen“.
Wie bei vielen anderen Bräuchen, die „im Geheimen“ ausgeübt werden und sich mystisch geben, ist es nicht verwunderlich, dass im Laufe der Zeit Geschichten rund ums Haberfeldtreiben erdacht wurden, die dem Brauch einen besonders geheimnisvollen, aber auch historisch bedeutsamen Anstrich verleihen sollten. Eine gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufkommende Sage, wonach der fränkische Kaiser Karl im Untersberg auf seine Auferstehung warte, um dann das Recht im Land wiederherzustellen, diente dazu, den Haberfeldtreibern als Gesandten dieses Herrschers Legitimation zu verschaffen. Auch wurde behauptet, die Haberer seien die Initiatoren des Bauernaufstands von 1705 gewesen und dessen Anführer, der legendäre Schmied von Kochel, damit der erste Haberfeldmeister. Natürlich war an diesen Legenden nichts dran, doch auch sie haben zum Teil bis heute überdauert.
- ISBN: 978-3-86222-452-4