Bayerische Geschichten 34/2020: Drei Tage im Oberbayern der Nachkriegszeit

Liebe Leserin, lieber Leser,

ein oberbayerisches Dorf im Bayern der Nachkriegszeit: Hier lebt Siegfried, der gerne rote Haare hätte wie sein Freund Franz. Dabei ist dieser auch nicht zu beneiden, wenn sein Vater ihn wieder einmal windelweich prügelt. Wie das wohl wird, wenn Siegfrieds eigener Vater aus jahrelanger Kriegsgefangenschaft zu ihnen nach Hause zurückkehrt. In eine Welt, die inzwischen eine andere geworden ist. In drei Tagen soll es so weit sein. Zwischen dem humanistischen Gymnasium, Indianerkämpfen und Erinnerungen an Krieg und Kriegsende beobachtet Siegfried mit unbestechlichem Blick diese merkwürdige Welt der Erwachsenen. Atmosphärisch dicht erzählt Eberhard Kapuste von einer entbehrungsreichen Jugend, von einer Zeit, in der Lebensmittel gehamstert und Mahlzeiten gestreckt werden.

Mama fuhr einmal im Monat zum Hamstern: In überfüllten Zügen in die Umgebung von München, wo sie einige Bauern kannte, bei denen es ab und zu etwas zu holen gab. Da sie gut reden und auch schauspielern konnte, hatte sie immer Erfolg. Mama tauschte Eier, Butter und Obst gegen Seife und Kerzen, die ihr Schwager Peter, der Mann ihrer Schwester Liesl, beschafft hatte. Wenn sie Glück hatte, brachte sie auch mal einen Schinken mit nach Hause, den ihr dann Nachbar Anders immer vergeblich gegen Kaffee abhandeln wollte. Sie sei eine tolle Geschäftsfrau, schmeichelte er ihr, aber das half ihm auch nicht.
Einmal hatte sie Siegfried mitgenommen. In einem Dorf sollte er Äpfel sammeln, während sie in einem Bauernhof zu tauschen versuchte. Vielleicht hatte sie gemeint, er solle Fallobst sammeln. Doch das hatte sie nicht gesagt und so tat es Siegfried auch nicht. Er pflückte die Äpfel vom Baum, wurde von der Dorfjugend entdeckt, die ihn als „Drecksau aus der Stadt“ und „elendigen Dieb, einen elendigen“ beschimpfte und mit Stöcken bewaffnet auf ihn losging. Ein Junge schoss sogar mit einer Steinschleuder, traf aber nicht. Siegfried flüchtete um das Dorf herum zu dem Bauernhof, in dem er Mama vermutete, fand sie aber nicht. Mama war auch bereits auf der Suche nach ihm. „Das war wohl nichts“, war ihr einziger Kommentar, als er schließlich keuchend vor ihr stand. […]
Oma hatte eine besondere Fähigkeit, sie wusste, wie man günstig, mit möglichst wenig Aufwand und mit wenigen echten Lebensmitteln Mahlzeiten streckt. Wenn Frauen zusammensaßen, war Strecken immer ein Thema und Oma führte das Wort. Strecken war wichtig, fast lebenswichtig: Aus wenigem sollte viel oder zumindest mehr werden. Zum Beispiel aus hundert Gramm Streichwurst zwei- oder dreihundert. Das sollte bei vielen Lebensmitteln gelingen, auch bei Backwaren und weiß der Teufel sonst noch was. Selbst der Tabak wurde gestreckt. Wasser, Mais, Haferflocken, Trockenkartoffeln, Mehl und alles Mögliche, angeblich auch Sägemehl, wurde untergemischt, damit das Essen einigermaßen sättigend wurde. Viele Rezepte waren Geheimsache, die man entweder für sich behielt oder nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit einem auserwählten Kreis verriet. […]