Bayerische Geschichten 26/2022: Eine moderne Heldenreise

Liebe Leserinnen und Leser,

Tom ist zufrieden mit sich und der Welt. Doch Kathi reicht es nicht aus, mit ihm nur die schicke Westend-Wohnung zu teilen. Sie setzt ein Ultimatum und Tom muss sich entscheiden. Unabhängigkeit, Kneipentouren und Punkrock gegen die große gemeinsame Zukunft. Eine moderne Heldenreise beginnt: zwischen Freiheitsdrang und Spießbürgerlichkeit, einer unberechenbaren Großfamilie, den Tücken des Landlebens, süßen Versuchungen, Geistern der Vergangenheit und der Frage, was es eigentlich heißt, erwachsen zu werden.

Leseprobe:

Das hier passiert nicht wirklich, dachte Tom. Im echten Leben taten Menschen so etwas nicht. Das taten nur irgendwelche Idioten in idiotischen Filmen, die zum Fremdschämen waren. Dann zerknüllte er den Zettel, steckte ihn sich in den Mund und würgte ihn mit einem Schluck Bier hinunter. Woraufhin ihn sogar Jeannette und Ulf sprachlos anstarrten, der zuvor eifrig damit beschäftigt gewesen war, die zeternde Jeannette wieder aufzurichten und von dem Berg Kartoffelsalat zu befreien.
»Prost!«, sagte Ralf anerkennend.
»Ob ich das Haus und die Küche anfangs wollte oder nicht, das spielt hier überhaupt keine Rolle«, sagte Tom ganz ruhig, nachdem er wieder sprechen konnte.
»Denn jetzt sind es mein Haus und meine Küche, zumindest zur Hälfte. Weil ich mich dafür entschieden habe und nur das zählt. Weil, und das ist das Allerwichtigste…« Er machte eine dramatische Pause und blickte allen Anwesenden reihum fest in die Augen.
»… weil ich mich für ein Leben mit Kathi entschieden habe. Scheiß auf alles, was vorher war. Hier und heute bin ich hier, und nur das zählt. Und du …« Jetzt blickte er Kathi an, die ihn mit schiefgelegtem Kopf wütend taxierte, ihn aber zumindest weitersprechen ließ.
»… Du brauchst keine Telefonnummern irgendwelcher Julians. Weil es nur einen gibt, der mit dir sein Leben verbringen und gemeinsam mit dir hier am Arsch der Welt alt werden wird. Und das bin ich! Weil es nur einen gibt, der dich heiraten und mit dir eine Familie gründen wird. Und das bin ich. Und zwar so schnell wie möglich, hörst du! Und damit ist alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt!«
Einen Moment herrschte Stille. Dann sprangen alle auf, sogar Ulf.
Traudl warf die Hände in die Höhe und quietschte: »Wie schön, ach du meine Güte, wie schön! Heinz, hörst du, wir werden doch noch Enkelkinder bekommen!«
Heinz kam um den Tisch herum und schlug Tom eine seiner Pranken auf die Schultern.
»Hast ja doch Schneid, Kollege. Bist ja doch ein Kerl, der weiß, was er will. Dann will auch mal der Heinz nicht so sein. Lass uns wieder gut sein miteinander!«
Und Paul und Marion kamen hinterher und umarmten erst Tom und dann Kathi. Sogar Ralf, der zynische Ralf, klatschte Tom mit einem erstklassigen High Five ab.
Und Kathi? Die blickte Tom auf eine Weise an, die er bis ans Ende seiner Tage nicht mehr vergessen würde.
Dann lächelte sie. Zwar nur leicht aber immerhin: Sie lächelte.
Nur Jeannette schüttelte den Kopf sowie den restlichen Kartoffelsalat von ihrer pinkfarbenen Kunstlederhose und sagte erschüttert: »Ihr habt alle einen Knall! Diese ganze Familie hat total den Schlag weg.«
Woraufhin Ulf seinen Arm um ihre Schultern legte und grinsend erwiderte: »Dann bist du ja bestens aufgehoben hier, Honey.«
Tom selbst stand seltsam unbeteiligt inmitten der aufgescheuchten Schar und betrachtete den Trubel, den er unversehens verursacht hatte. Das war ich, dachte er erstaunt. Ohne Zweifel, das war ich. Das habe ich getan.
Dann wurde ihm langsam bewusst, was genau er getan hatte, und er dachte: Oh Scheiße!