Bayerische Geschichten 23/2021: Vom Knecht, der seine Liebe verkauft

Liebe Leserin, lieber Leser,

Heiners Welt reicht vom Stall bis zum Ackerrand, doch er will hoch hinaus. Einmal einen Alpengipfel besteigen und im fernen Afrika beim Aufbau der Landwirtschaft helfen. Dazu müsste er studieren. Nur, wie soll er das anstellen? Ohne Geld, ohne Stand und ohne Aussicht auf Besserung? Aber wenigstens Herr auf seinem eigenen Bauernhof will er sein! Heiner ist bereit, dafür alles zu opfern – auch seine Liebe zu Anna, die genauso arm ist wie er.
Fritz Stiegler erzählt von der verschwundenen Welt fränkischer Kleinbauern, vom wahren Leben eines Knechts, der seine Liebe verkauft, um Bauer zu werden, und öffnet dabei das Tor zur großen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts – sprachgewaltig, berührend und gespickt mit valentineskem Humor.

Heiner Scherzer heiratete für damalige Verhältnisse recht spät. Er war schon über 30 Jahre alt, als er sich gegen seine große Liebe Anna entschied: Stattdessen gab er Tina das Jawort, der Tochter eines örtlichen Bauern, die als Mitgift einen kleinen Hof in die Ehe brachte (Foto: privat).

LESEPROBE
Regen prasselt auf das Dach des Bauernhauses. Die verwitterten Ziegel leiten das Wasser in die Rinne. Zwischen vermoosten Biberschwänzen dringt es in die Hohlräume und sammelt sich unter der Schräge der Schlafkammer. Kleine und große Tropfen reihen sich wie Perlen aneinander, lösen sich abwechselnd von den Brettern und tropfen in den steinernen Krug, den blechernen Teller, die giftgrüne Vase.
Heiner beobachtet die Tropfen. Er stellt den Plastikeimer zwischen Krug und Teller. Er wartet. Als der erste Tropfen am Boden des Eimers aufschlägt, schnauft er zufrieden. »Erwischt, erwischt, erwischt …«
Neben dem Blechteller bildet sich ein Rinnsal. Mit dem Fuß schiebt Heiner das Gefäß eine Weile hin und her, da wischt ein Schatten durch die offene Tür herein. »Ja, Katz, bist auch schon da! Deine Bemberli warten auf dich.«
Das magere Tier schmiegt sich an sein Bein. Er streicht über das rot-weiß gescheckte Fell. »Musst mehr fressen.« Die Katze schnurrt, läuft zum Bett, springt hinein und rollt sich in die Kuhle zu ihren vier Jungen.
Heiner zieht den Stuhl an die Bettstatt und setzt sich. Am liebsten würde er sich zu den Katzen in die Kissen legen, müde, wie er ist.
Der Regen nimmt zu. Donner grollt und kracht und peitscht Wasser gegen das Sprossenfenster am Giebel. Heiner steht auf und geht an die Scheibe. Eine Wand aus grauer Gischt versperrt den Blick auf den nahen Waldrand. Er schlurft zurück und sinkt wieder auf den Stuhl, dann faltet er die Hände und betet das Vaterunser. Sein Blick wandert zur Katzenmutter, die mit ihren Kleinen spielt. Er bittet den Herrgott um Beistand für seine Katzen, die Hühner, Tauben und Schwalben und schließlich für seinen Acker und seinen Wald.
Die ersten dicken Tropfen landen auf dem Kopfkissen. Seufzend steigt er die Treppe hinab, zieht sich den Mantel über den Kopf und tritt auf den mit Feldsteinen gepflasterten Hof. Umständlich lockert er ein Stück Dachrinne über dem Wasserfass und nimmt es mit ins Haus. Heiner lehnt die zwei Meter lange Rinne ans Treppengeländer und geht in den angrenzenden Kuhstall. Ständer aus Metall ragen aus dem Betonboden, daneben liegen rostige Ketten. Kälberstricke hängen an der Wand, von Spinnweben überzogen, die Mistgabel lehnt unter dem Stallfenster.

Fritz Stiegler lebt als Haselnussbauer im fränkischen Gonnersdorf. In der Region ist er als Texter von fünf erfolgreichen Musicals (u.a. „Mademoiselle Marie“) bekannt, weit darüber hinaus als Autor seines ersten Romans „Valentina“. Als beim Umbau des Nachbarhofs Heiners Briefe und sein Arbeitsbuch mit den Stationen seiner Knechtschaft entdeckt wurden, wusste Fritz Stiegler: Das ist der Stoff für einen Roman (Foto: Matthias Schäfer).

Er nimmt die Gabel, einen Kälberstrick und die Rinne mit hinauf in die Schlafkammer, öffnet das wetterabgewandte Fenster in der Gaube, legt die Rinne auf den Sims. Dann schiebt er den Stuhl unter die Lampe, wickelt den Strick zweimal um die Halterung und befestigt die Rinne am Seil. Zwischen die Zinken der Mistgabel legt er das gewölbte Blech, fixiert den Holzstiel und schließt mit dem anderen Ende des Stricks das Fensterchen bis zum Anschlag.
Ping, ping, ping … Blechern schlagen die Tropfen in der Rinne auf. Artig vereinen sie sich und folgen dem Weg durch das Fenster nach draußen.
Heiner blickt sich um. Der Dielenboden ist blank gescheuert. Die leichte Unebenheit bei der Tür fällt kaum auf. Er geht daneben in die Hocke und sackt auf die Knie. Mit zittrigen Fingern zieht er sein Taschenmesser aus der Hosentasche, klappt die Schneide auf und setzt sie an dem breiten Spalt an. Er hebt das Brett aus dem Boden und greift in die Lücke neben dem Balken. Die Blechschachtel findet den Weg heraus von allein. Er nimmt sie mit dem Bauernbuch und der Bibel in beide Hände und rappelt sich mühsam hoch.
Am Tisch holt er aus der Schachtel sein Arbeitsheft und den Musterungsbescheid, dann das Bündel Briefe, er streift den Gummiring ab, öffnet die Umschläge und entfaltet jedes einzelne Blatt. Neben- und übereinander breitet er sie auf der Tischplatte aus.
Heiner verschränkt die Arme vor der Brust und schaut. Sein halbes Leben liegt da vor ihm, und für so manches würde ihm der Herrgott wohl ein Ungenügend geben.

  • ISBN: 978-3-86222-401-2

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