Bayerische Geschichten 22/2024: Münchens wildestes Jahrzehnt

Lieber Leserinnen und Leser,

Münchens 70er Jahre waren laut, schrill und verrucht. Legendär war seine Musik- und Disco-Szene und die „Klatschtanten“ der Münchner Zeitungen hatten alle Hände voll zu tun, um die Bevölkerung mit täglichen Berichten über die ausschweifenden Partys der „Schickeria“ zu versorgen. Ein Großereignis stellte das Leben der Münchnerinnen und Münchner dann völlig auf den Kopf: 1972 blickte die ganze Welt begeistert auf die farbenfrohen Olympischen Spiele, bis sie mit dem Attentat des „Schwarzen September“ ein düsteres Ende nahmen. Als intimer Kenner der Münchner Gesellschaft war der Fotograf Heinz Gebhardt immer dicht dran am Geschehen und dokumentierte mit seinen brillanten Schwarz-Weiß-Fotografien das Lebensgefühl, aber auch den Alltag in seiner Heimatstadt.

Mit Eva Bohn-Chin, einem deutsch-jamaikanischen Fotomodell, wäre der Herr Wachtmeister sicher gerne mitmarschiert. Sie setzte sich an die Spitze der Minirock-Demo (Fotos: Heinz Gebhardt).

 Als 1962 die britische Modeschöpferin Mary Quant in der „Vogue“ erstmals die von ihr erfundenen Miniröcke vorstellte, hielt man diese zuerst für eine der vielen Mode-Eintagsfliegen. Als aber die ultrakurzen Röcke zum Verkaufsschlager wurden, ging ein Schrei des Entsetzens durch die Republik. Tugendwächter und Moralapostel pochten auf den gesetzlichen Tatbestand der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“. 1970 versammelte man sich an der Münchner Freiheit zu einer unangemeldeten Spontandemonstration, um für mehr Toleranz gegenüber Minirockträgerinnen zu werben. Schon bald rollte eine Einsatzhundertschaft an. Die Einsatzleitung konnte sich das Lachen nicht verkneifen, war aber ratlos, wie man in der Sache weiter vorgehen sollte. Schließlich rückte Polizeivizepräsident Dr. Georg Wolf höchstpersönlich  mit Blaulicht an und genehmigte im Schnellverfahren eine Demo-Route durch die Leopoldstraße. „Wir sind ja schließlich in München“, begründete er seinen Segen.

Die „Stachusbrücke“ kostete 150.000 Mark und wurde im Frühjahr 1968 für „höchstens ein Jahr“ gebaut, bis man den Stachus wieder mittels einer Unterführung hätte begehen können. Wie Gehbehinderte, Kinderwägen oder Rollstuhlfahrer über das „hölzerne Monster“ kommen sollten, blieb ein Rätsel.

Die Münchner Innenstadt war Anfang der 1970er Jahre von Schwabing bis zum Marienplatz und von dort bis zum Stachus unter anderem wegen des U- und S-Bahn-Baus eine einzige offene und tiefe Baugrube. Die Münchner nahmen alle Umleitungen und Behelfsbrücken mit einer Eselsgeduld in Kauf. So konnte man am Stachus lange Zeit Fußgänger jeden Alters zwischen den Trambahngleisen bei ballettreifen Sprüngen über Absperrgitter beobachten – und das, obwohl sie den damals „verkehrsreichsten Platz Europas“ auch über eine 60 Meter lange und 4,50 Meter hohe Holzbrücke hätten überqueren können. Allmählich wurde die „Stachusbrücke“ zu einer regelrechten Attraktion für die München-Touristen und auch die Einheimischen fanden langsam Gefallen an der Konstruktion – und zwar so sehr, dass vor dem geplanten Abriss im Juni 1969 sogar die Forderung laut wurde, das Provisorium in einen „dauerhaften Festbau“ umzuwandeln.

„Public Viewing“ auf dem Marienplatz: Tragbare Fernseher machten es möglich, dass auch zufällig vorbeikommende Passanten den Sieg der Deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM 1974 verfolgen konnten.

Am 7. Juli 1974 wurde Deutschland im Olympiastadion vor 78.000 Zuschauern mit einem 2:1 Sieg über die Niederlande und mit Toren von Paul Breitner und Gerd Müller zum zweiten Mal nach 1954 Fußballweltmeister. Wer nicht vor dem Fernseher saß oder Karten für das Stadion hatte ergattern können, konnte das Spiel überall in der Innenstadt verfolgen: In den Schaufenstern der Kaufhäuser liefen Fernsehapparate und auf dem Marienplatz hatten Fußball-Fans kleine tragbare Fernsehgeräte aufgestellt, um die sich Menschentrauben bildeten und mit viel Geschrei das Endspiel verfolgten – quasi eine Frühform des Public Viewing.