Bayerische Geschichten 21/2021: Fast am Ende der Welt

Liebe Leserin, lieber Leser,
der Traum vom Ausstieg, von echter Autarkie und einem freien Leben: Er vereint im neuen Roman von Grimme-Preisträger Bernd Schroeder zwei Männer, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Attila, der gefallene Liebling der Münchner Schickeria, hat die finanziellen Mittel für ihr gemeinsames Paradies auf einem halbverfallenen Aussiedlerhof – irgendwo im Nirgendwo auf dem bayerischen Land. Josef, der lebenslange Eigenbrötler, bringt den grünen Daumen für den Bauerngarten mit – das hoffen sie zumindest. Mit Witz und Weißbier stürzt sich das seltsame Duo in die Arbeit und der Plan für den Rest ihres Lebens könnte wirklich aufgehen. Doch mit der Zeit häufen sich die Stolpersteine: neue Geliebte, verlorene Söhne und eine unheimliche Ahnung, die vom dunklen Fischteich ausgeht …

Leseprobe

Es ist Dienstag. Das Oktoberfest ist zu Ende, im Brauhaus ist es ruhiger. Früher Abend. Josef und Attila sitzen am selben Tisch wie vor vier Tagen. Kathi bringt Biere. Aha, denkt sie sich, die zwei sind Freunde geworden.
„Prost, Josef!“
„Prost, Attila!“
„Und, was macht das Rentnerdasein?“
„Man gewöhnt sich dran. Schaut sich die Stadt genauer an, fährt hinaus aufs Land, ans Ende der S-Bahn, ein Auto hab ich ja nicht.“
„Ja, die Stadt – laut und hektisch. Oft möcht ich am liebsten weg. Aber dann denk ich wieder, ich brauch die Stadt.“
Er habe immer gedacht, er sei ein echtes Stadtkind und er könnte ohne die Stadt nicht leben, sagt Attila, aber wenn er so über Land gefahren ist, zu den Händlern, ins Chiemgau, ins Innviertel oder in den Bayerischen Wald, und wenn er dann das Auto stehen hat lassen und spazieren gegangen ist, sich auf eine Wiese oder einen Jägerstand gesetzt hat, dann kam eine solche Sehnsucht nach Ruhe, nach Natur in ihm auf, dass er sich gelegentlich schon umschaute, ob nicht das eine oder andere Haus zu erwerben wäre. So fürs Wochenende oder vielleicht auch für immer, für diesen Rest des Lebens. Ganz einsam, an einem Waldrand mit einem Blick über das Land, mit einem Garten, mit Platz für Tiere, für ein ganz anderes Leben. Auf einer Bank vor dem Haus sitzen, eine Katze schnurrend auf dem Schoß, in die Ferne blicken, die Stadt weit weg, kein Lärm, nur das Rufen der Vögel oder das Rauschen der Bäume.
Irgendwie sei da genetisch etwas in ihm, herrührend vielleicht von der Großmutter, die eine Bauerntochter aus dem Niederbayerischen war. Jahrelang habe er sich das nicht vorstellen können. Über die Städter, die plötzlich mit allerlei Begeisterung aufs Land zogen, habe er gelacht. Aber jetzt sei diese Sehnsucht immer stärker geworden. Ein paar Angebote habe er sich schon angesehen, aber es sei nichts Geeignetes dabei gewesen.
Er wisse, dass er diesem Traum, ja, es sei auch ein Traum, nachgeben werde. Er werde irgendwann aufs Land ziehen, Gemüse pflanzen, Tiere haben, Schnaps brennen – ach, und was es alles in einem solchen, ganz anderen Leben gebe.
„Ich will ein Bauer sein, wie meine Vorfahren. Ich weiß nicht, ob du das verstehst?“
„Schon. Mir träumt auch oft so.“
Auch er habe diese Sehnsucht nach der Natur, nach Ruhe, sagt Josef. Darum fahre er ja ab und zu hinaus aufs Land. Sich etwas zu kaufen oder zu mieten, das komme ja für ihn nicht infrage, dafür reiche seine Rente nicht aus. Und das wenige Ersparte auch nicht. Er erzählt von dem Schweigen auf seinem Handy. Mehr könne er sich nun mal nicht leisten. Schon seine Mutter selig, die ja von einem Bauernhof stammte, habe sich immer ein Stück Land gewünscht, wenigstens einen Schrebergarten. Aber es war nie dazu gekommen.
Ein Trödler aus Landsberg habe ihn angerufen, sagt Attila, es gebe da ein kleines Anwesen außerhalb eines Dorfes, das stehe zum Verkauf. Ob Josef mitkommen wolle es zu besichtigen.
„Ja, warum nicht.“
„Ob das was ist, weiß ich nicht. Aber anschaun kann man sichs ja mal.“
Nachdem sie noch ein paar Biere getrunken, auf die laute Stadt geschimpft und das Landleben girlandenreich gepriesen haben, verabreden sie sich für den nächsten Morgen.

Landsberg. Flaches Land. Das Navi, eine nette Frauenstimme, weist den Weg. Felder, Dörfer, Wald, Neubaugebiete, Industriepark mit Baumarkt, Gartencenter, McDonald‘s, Autohaus, Sanitär, Aldi, Lidl und Co. Dann Wiesen mit Kühen, eine Pferdekoppel, ein Gutshof dahinter, wieder Industrieanlagen und riesige Silos einer Zementfabrik, eine kleine Straße einen Hügel hinauf. Da steht es, das zu verkaufende Haus, schmuckloser Fünfzigerjahre-Bau, graue Fassade, warum auch immer hier in die Einöde gestellt. Ein kleiner verwilderter Garten, ein Schuppen und Berge von Eisenschrott, ein kaputter Jägerzaun. Alles sieht ziemlich heruntergekommen aus, nichts, was Interessenten anzusprechen geeignet wäre. Und zum Entsetzen der beiden ein Blick auf das Industriegebiet, auf zwei Silos und die dahinter liegende Autobahn. Attila ruft den Makler in Landsberg an, sagt ihm, dass es das nun wirklich nicht ist. Sie fahren zurück nach München.
Erst einmal schweigen sie.
Attila fährt schnell, was Josef verunsichert. Vielleicht sollte man miteinander reden, um ein langsameres Fahren zu ermöglichen. „Also, Attila, das ist doch für dich nix, oder.“
Attila schweigt, fährt in eine Tankstelle, tankt, verschwindet.
Josef bleibt im Auto sitzen.
Attila kommt zurück, hat zwei Bountys mitgebracht, gibt Josef eins und fährt ab. „Wir werden lange suchen müssen, Josef. Es ist nicht einfach. Und wir haben doch gewisse Ansprüche und Vorstellungen.“
Josef ist irritiert. „Was heißt eigentlich wir? Du suchst –“
„Naja, ich mein, wir haben denselben Traum, dann –“
„Ich habe dafür kein Geld. Also vergiss es. Es ist ausgeschlossen. Nur ein Traum.“
„Josef! Ich habe das Geld, ich habe keine Erben. Was soll ich mit dem Geld, ich kanns ja nicht mit ins Grab nehmen. Wir wollen doch dasselbe, du und ich. Wir wollen raus aus der Stadt. Alleine ist das sehr einsam und im Alter nicht unkompliziert. Also, reden wir nicht über das Geld, reden wir drüber, ob wir uns unseren Traum gemeinsam verwirklichen wollen. Wenn das so ist, wenn du das auch willst, dann reden wir nie mehr über das Geld. Wir können was kaufen, restaurieren, investieren. Also, es gibt, wie sagt man, pekuniär keine Probleme.“
Josef schweigt.
„Na, warum sagst du nix?“
„Das ist nicht so einfach.“
„Ja, das verstehe ich.“
„Ich muss darüber nachdenken.“
„Um sieben im Brauhaus?“
„Um sieben im Brauhaus.“

Jetzt, am Abend, da sie gesehen haben und wissen, was sie nicht wollen, wissen sie, was sie wollen und dass sie eventuell Gemeinsames wollen. Euphorisch basteln sie sich das Ideal zurecht. Einsam muss es sein, einen schönen Blick muss es bieten, groß genug muss es sein, um den gemeinsamen und den Bedürfnissen des Einzelnen gerecht zu werden. Unverbaubar muss es sein, bewohnbar
und eventuell restaurierbar, kurz und gut: Das Paradies sollte es sein. Haben sie nicht, verdammt noch einmal, Anspruch darauf?
„Kathi, was sagst du dazu?“
Sie antwortet in ihrem schönsten Bairisch: „Zwoa gschbinnade Graddla seids!“
„Was sagt sie?“, fragt ein Norddeutscher, der mit am Tisch sitzt und mit Interesse den Ausführungen
der beiden zugehört hat.
„Sie sagt“, erläutert Attila, „wir sind zwei fantasievolle Zeitgenossen.“
„Übrigens“, sagt Josef, „Sie sollten unbedingt das Kloster Andechs besuchen, die Zirbelstube in der
Klosterschänke. Da hat man im Erker einen wunderbaren Blick und der Kellner Xaver ist der freundlichste Kellner, den man sich vorstellen kann.“
„Wenn Sie dort nicht waren“, ergänzt Attila, „dann haben sie Bayern nicht gesehen.“
Als der Mann gegangen ist, fragt Attila: „Bist du da öfter, in Andechs?“
„Ach, woher denn, ich war da noch nie.“
„Ich auch nicht.“
Sie lachen.