Bayerische Geschichten 17/2024: 100 original bayerische Schauermärchen

Liebe Leserinnen und Leser,

wohliger Grusel – fast alle Menschen lieben es, ihn zu spüren. Kein Wunder, dass sich längst die Wissenschaft mit dem Grusel-Faktor beschäftigt hat und zu dem Schluss gekommen ist: Ja, Angst kann Spaß machen und sogar dabei helfen, individuelle wie gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.

 Auch für Erika Eichenseer, Bayerns renommierteste Märchenkennerin und Herausgeberin unserer Neuerscheinung „Der Klappermichl und die Wilde Jagd“, sind die teils uralten Texte weit mehr als spannende Gutenachtgeschichten für Kinder. Die 100 von ihr ausgewählten original bayerischen Schauermärchen öffnen die Tür zu vergangenen Zeiten und bieten uns dabei mit ihren zeitlos gültigen Botschaften Orientierung. Lassen auch Sie sich entführen: Auf zum schön-schaurigen Ritt mit der Wilden Jagd!

Der „Klappermichl“: Sämtliche Holzschnitte – im Buch sind 26 versammelt – sind Werke des Künstlers Michael Mathias Prechtl (© Stadtmuseum Amberg).
Der „Klappermichl“: Sämtliche Holzschnitte – im Buch sind 26 versammelt – sind Werke des Künstlers Michael Mathias Prechtl (© Stadtmuseum Amberg).

Tief im Osten Bayerns, wo der Wald dunkel am Horizont steht, wo Seen und Moore mit unauslotbaren Tiefen locken und man bei Gewitter meint, die Zwerge in den Bergen nach Schätzen graben zu hören: Hier ist der Schauplatz der 100 von Erika Eichenseer zusammengestellten Schauermärchen. Aufgezeichnet wurden sie im 19. Jahrhundert von Franz Xaver von Schönwerth, Kabinettschef von König Maximilian II. Joseph, Volkskundler und hochgeschätzter Zeitgenosse der Gebrüder Grimm. Er war der Erste, der die lange Zeit nur mündlich weitergegebenen Geschichten festhielt und es dabei schaffte, den einmaligen Charakter der Erzählungen zu erhalten. Schönwerth-Märchen sind ungeschönt, rau, von urwüchsiger Kraft – z.B. die Geschichte vom „Klappermichl“: Ein des nachts „bewegtes“ Skelett versetzt mit seinem Knochengeklapper ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken, bis eine Mutprobe und das beherzte Eingreifen einer der Dorfältesten dem Spuk ein Ende bereiten.

 

Ob sich auf so einem Katzenschwanz wirklich musizieren lässt?
Ob sich auf so einem Katzenschwanz wirklich musizieren lässt?

Ein wanderndes Skelett lehrt einen leicht das Fürchten, doch in den alten Märchen hat die Angst viele Gesichter, reale wie fantastische. Teufel treiben gleich im Dutzend ihr Unwesen, dazu Schwarzkünstler, Bilmersschneider, Räuber, Menschenfresser, Eisriesen, Wasserfrauen, Drachen, Feurige Männer, Hexen – und deren liebstes Haustier: Katzen. Ein „brennfeuerroter Kater“ soll einmal auf einem oberpfälzischen Bauernhof eingezogen sein. Man ließ ihn gewähren, die Ofenbank war sein liebster Platz. Doch eines Nachts hört der Bauer vom nahen Waldsaum Musik. Und wie er neugierig näher kommt, sieht er ausgerechnet seinen Kater, „den Schwanz in der Goschen und bläst wie auf einem Dudelsack darauf lustige Weisen, nach denen Katzen um ihn herum vergnügt tanzen“. Den Bauer schaudert’s, er macht sich eilig davon. Erst am nächsten Morgen, im hellen Tageslicht, traut er sich und sagt zum Kater: „Bist mir ein sauberer Bursch, hab dich schon gesehen!“ Augenblicklich war der Kater zum Fenster hinaus und ließ sich nie wieder blicken.

 

 

Wie man das Unglück einer „Rockenfüssl“-Begegnung bannen kann? Das wird im Buch „Der Klappermichl und die Wilde Jagd“ verraten.
Wie man das Unglück einer „Rockenfüssl“-Begegnung bannen kann? Das wird im Buch „Der Klappermichl und die Wilde Jagd“ verraten.

In der nordischen Mythologie verehrte man die Katze noch als Symbol der Göttin Freya, erst nach der Christianisierung galt sie als unheimlich und tauchte als Attribut der Hexen auf. Überhaupt ist der Einfluss der Kirche auf Denken und Handeln der Menschen in vielen alten Märchen gut zu erkennen. So soll der Bruch eines christlichen Gebots einst einem Mädchen zum Verhängnis geworden sein: Du sollst am Freitag nicht singen / am Samstag nicht spinnen / am Sonntag die Heilige Messe nicht verschlafen. Sie tat ihr Leben lang alle drei diese Dinge, bis sie im Moment ihres Todes in ein Ungeheuer namens „Rockenfüssl“ verwandelt wurde: ein mal böser, mal neckischer Geist mit menschlichem Kopf, einem dicken Stock als Körper und einem Spinnrad anstelle von Beinen. Zuweilen soll es auch in kleiner, gedrungener Gestalt gesehen worden sein, mit Hühnerfüßen und großem Schädel, darauf ein Dreispitz, bekleidet mit einem weiten Reifrock. Wer dem „Rockenfüssl“ begegnete, dem stand Unglück ins Haus.