Bayerische Geschichte(n), 16/2020: …dann schauen wir eben hinter die Kulissen!
Liebe Leserin, lieber Leser,
morgen wäre es losgegangen: Oberammergau lockt mit seinem Passionsspiel alle zehn Jahre eine halbe Million Besucher an den oberbayerischen Alpenrand. Das erfolgreichste Laienspiel weltweit, das auf ein Pestgelübde aus dem Jahr 1633 zurückgeht, findet immer zur vollen Dekade statt, stellt die letzten sechs Tage im Leben Jesu dar und beschäftigt zwischen Mai und Oktober fast die Hälfte der Oberammergauer als Mitspieler und -sänger. Da die Passion dieses Jahr mit Blick auf die Gesundheit von Spielern und Gästen abgesagt und um zwei Jahre auf 2022 verschoben wurde, ist es umso spannender, vorab mit dem opulent bebilderten Band „Die Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele“ von Viola Schenz hinter die Kulissen des Spektakels zu schauen.
Vor exakt 100 Jahren konnten die Passionsspiele ebenfalls nicht wie geplant stattfinden – und man entschloss sich, sie um zwei Jahre auf 1922 zu verlegen. Damals standen der Aufführung zum einen die unzureichende Lebensmittelversorgung in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs im Wege. Zum anderen stellte auch die gewaltige Zahl der im Krieg Gefallenen die Passion vor Schwierigkeiten: Es fehlten schlicht Mitspieler, um die vielen Haupt-, Neben- und Statistenrollen zu besetzen. Doch dies war nicht das einzige Jahr, in dem die Spiele ihren Dekaden-Rhythmus nicht halten konnten: 1770 und 1940 fielen sie sogar ersatzlos aus. Im Jahr 1940 verhinderte der Zweite Weltkrieg die Aufführung. 1770 allerdings war das Wort eines einzelnen Mannes ausschlaggebend: Kurfürst Maximilian III. verbot sämtliche Passionsspiele in Bayern, da er der Meinung war, dass „das größte Geheimnis unserer heiligen Religion nun einmal nicht auf die Schaubühne gehört“.
Schon immer war es ein Anliegen der Oberammergauer, mit dem Passionsspiel nicht nur ihre Frömmigkeit unter Beweis zu stellen, sondern auch den Glauben weiterzuverbreiten. Mit der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt aufwendigeren Nachstellung der Kreuzigung und Auferstehung Jesu erlangten sie schnell Berühmtheit – und fanden Anklang in der ganzen Welt. Das war sogar manchen Vertretern der katholischen Kirche ein Dorn im Auge: So stattete etwa ein hoher Geistlicher aus dem Ausland Oberammergau einst einen Besuch ab, der „dem Unfug der Passion ein Ende“ machen wollte, von der Aufführung aber „bekehrt“ zurückkehrte. Der Schriftsteller Guido Görres beschrieb wenig später eine Besucherin, die von dem Schauspiel emotional so ergriffen war, dass sie das Theater vorzeitig verlassen musste.
Mit ihrem umfassenden Werk zu den Passionsspielen gewährt die Journalistin Viola Schenz, selbst Wahl-Oberammergauerin und seit Langem fasziniert von dem gewaltigen Schauspiel, einmalige Blicke auf bald 400 Jahre erfolgreich gepflegte Tradition. Denn die Autorin verrät nicht nur die bisher streng gehüteten Geheimnisse der Geschichte, sie kennt auch die modernen Bühnentricks – z.B. den Kniff, mit dem der Christusdarsteller so täuschend echt ans Kreuz genagelt wird. Oder was die Spiele mit Bayerns Märchenkönig Ludwig II. verbindet und weshalb Spielleiter Christian Stückl, „seinen Passion“ radikal umzukrempeln plant.
- ISBN: 978-3-86222-316-9