Bayerische Geschichte(n), 15/2015: Katastrophe oder Idylle?

Der noch dicht besiedelte Südostbereich der Haidhauser "Grube" zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Blick geht bis zur Äußeren Wiener Straße. (Foto: Stadtarchiv München)
Der noch dicht besiedelte Südostbereich der Haidhauser „Grube“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Blick geht bis zur Äußeren Wiener Straße. (Foto: Stadtarchiv München)

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Wohl wurden von Seiten der Stadtverwaltung sog. Gemeindeaborte und Brunnen zur gemeinschaftlichen Benutzung gegen eine monatliche Gebühr von 30 Pfennig den einzelnen Parteien zur Verfügung gestellt, allein sobald diese etwas abseits von den betroffenen Herbergen liegen, greifen die Herbergeinwohner zu einem sehr verwerflichen Mittel, d.i. die Aufstellung von sog. Nachtkästen in einem kleinen finstern Loch …“. Vor allem wegen der zum Teil katastrophalen hygienischen Verhältnisse waren die Herbergsviertel in den östlichen Münchner Vorstädten Au und Haidhausen den städtischen Behörden spätesten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Dorn im Auge, wie dieser Bericht eines städtischen Beamten deutlich macht.

Der 1939 begonnene Neubau für das städtische Krankenhaus rechts der Isar kurz nach der Vollendung des Rohbaus. Die Kleinhausgruppe In der Grube 28 und 29 bildet vor diesem überdimensionierten Hintergrund nur noch den "schäbigen Rest" der einstigen Grubenbebauung, Aufnahme 1941. (Foto: Stadtarchiv München)
Der 1939 begonnene Neubau für das städtische Krankenhaus rechts der Isar kurz nach der Vollendung des Rohbaus. Die Kleinhausgruppe In der Grube 28 und 29 bildet vor diesem überdimensionierten Hintergrund nur noch den „schäbigen Rest“ der einstigen Grubenbebauung, Aufnahme 1941. (Foto: Stadtarchiv München)

Es sollte jedoch bis weit in die 1960er Jahre dauern, bis auch das letzte Herbergsanwesen in dem als „Grube“ bezeichneten Areal in Haidhausen verschwand. Dieses Quartier war auf einer ehemaligen Lehm- und Kiesgrube zwischen der heutigen Ismaninger Straße und der Einsteinstraße entstanden und bestand um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus einer dichten Gemengelage von kurios verschachtelten kleinen Häusern, in denen jeweils mehrere Familien wohnten und eine „Herberge“, ein oder mehrere Zimmer, ihr eigen nannten. Abschnittsweise rückte das Krankenhaus rechts der Isar mit immer neuen Erweiterungsbauten der „Grube“ auf den Leib.

Das Ehepaar Lehner wohnte bis Anfang der 1960er Jahre in seiner Herberge An der Schwaige 8. (Foto: Timeline Images/MargretDwo)
Das Ehepaar Lehner wohnte bis Anfang der 1960er Jahre in seiner Herberge An der Schwaige 8. (Foto: Timeline Images/MargretDwo)

Östlich an das Herbergenviertel „in der Grube“ schloss sich unmittelbar das Quartier „Schwaige“ an. Noch Mitte der fünfziger Jahre spielten hier die Kinder in den engen Gassen, in den kleinen Vorgärten wuchsen Blumen und Nutzpflanzen. Man möchte eher an vorstädtische Idylle als an soziales Elend denken. Doch die Herbergsviertel waren nach den Zwischenkriegs- und Kriegsjahren in schlechtem baulichen Zustand, sie galten endgültig als nicht mehr zeitgemäß. Der Schreinermeister Lehner und seine Frau gehörten zu den Herbergsbewohnern, die bis zuletzt in ihrem Häuschen ausharrten, auch als es schließlich ganz allein inmitten einer Brache stand – und schließlich ebenfalls einem Klinikneubau weichen musste.

Der ehemalige Leiter des Stadtarchivs München, Dr. Richard Bauer, nimmt sich in „Verlorene Lebenswelten“ der Geschichte vom langsamen Niedergang der historischen Herbergsviertel an und kommentiert die einmaligen Privataufnahmen, die durch bislang weitgehend unveröffentlichtes Fotomaterial aus dem Stadtarchiv München ergänzt werden.