Bayerische Geschichte(n), 09/2014: Armsünderfett und Kindshändel
Liebe Leserin, lieber Leser,
nicht immer rollten Köpfe, wenn im Mittelalter der Scharfrichter seines Amtes waltete: Der Henker war nicht nur für Hinrichtungen zuständig, sondern auch für das Foltern von Beschuldigten und für körperliche Züchtigungsstrafen. Dazu gehörte, je nach Vergehen, das Ausstechen von Augen, das Ausreißen der Zunge, das Brandmarken mit glühenden Eisen – oder das Abschlagen von Händen. Aber nicht nur wegen seiner Aufgaben im Strafvollzug, sondern auch wegen seiner vielfältigen „Nebenerwerbstätigkeiten“ wurde der Henker gemieden.
Der sogenannte „Freimann“ galt als „unehrlich“, niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben – es sei denn, man wollte seine Dienste in Anspruch nehmen. Nicht selten war der Henker auch als Bordellbetreiber, als Abdecker oder Abortgrubenreiniger tätig. Und nicht selten handelte er auch mit „magischen Heilmitteln“, zu denen nur er Zugang hatte: So sollte etwa Hundefett, als Salbe aufgetragen, Gelenksentzündungen lindern. Besondere Heilwirkung sprach man jedoch Menschenfett zu, das als „Armsünderfett“ im Umlauf war und bis ins 19. Jahrhundert als Grundlage für Salben gegen Knochen- und Zahnschmerzen sowie gegen Gicht diente.
Als mächtigstes und aufgrund der geringen Verfügbarkeit begehrtestes Heilmittel aber galten die Hände von Hingerichteten, insbesondere die Hände von toten Kindern. Durch das Streichen mit einer solchen Kinderhand über Geschwüre, Hautausschläge oder schmerzende Gelenke sollten diese Leiden auf die Totenhand übergehen und so der Kranke geheilt werden. Aber nicht nur Heilkraft, auch regelrechte Zauberkraft sprach man diesen „Kindshändeln“ zu: Diebe sollen sie benützt haben, um Schlösser zu öffnen. Vor diesem Hintergrund ist es gar nicht mehr so verwunderlich, dass zuweilen aus einer Anklage wegen Diebstahl ein Hexenprozess wurde. Auch viele Kinder und Jugendliche aus den unteren Schichten, die aus Not bettelnd umherzogen, wurden wegen Zauberei und Hexerei verurteilt. Auf Hilfe aus der Bevölkerung konnten sie nicht hoffen – im Gegenteil, sie waren verhasst und man gab ihnen die Schuld für schlechtes Wetter, Missernten und Hungersnöte.
Henker, Kanalräumer, Prostituierte, Bader, Hausierer und Dienstboten – keiner mochte sie, aber gebraucht wurden sie doch. Wenn sie nicht als Ausgestoßene der Gesellschaft galten, so waren sie doch zumindest nur ihr „Bodensatz“, ein notwendiges Übel, das man scharf ihm Auge behalten musste. Der Leiter des Münchner Staatsarchivs Christoph Bachmann und Karin Dütsch, Ressortleiterin für Kultur bei der Bayerischen Staatszeitung, beleuchten mit dem Buch „Alte Zeiten, raue Sitten – Underdogs aus Bayerns Geschichte“ anhand von Archivfunden die Lebenswirklichkeiten der unteren Schichten.
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