Bayerische Geschichten 04/2023: Ein Sommer, der alles verändert

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sommer 1899: Die zehnjährige Mizzi lebt und arbeitet mit ihrer streng gläubigen Mutter im Gasthaus des Onkels. Zwischen Religion und Aberglauben wird sie groß, eingebettet in eine festgefügte Dorfgemeinschaft und deren ungeschriebene Gesetze. Am liebsten verbringt Mizzi ihre Zeit mit den Freunden – bis eines Tages das Lisei aus dem Armenhaus tot in der Tiroler Ache treibt. Hat der Stelzenbauer Franz das Mädchen unter Wasser gedrückt oder war es doch die unheimliche Waldfrau, wie einige im Dorf munkeln? Nur Mizzi hat gesehen, was wirklich passiert ist, aber niemand will ihr Glauben schenken.

Leseprobe:

Einige Zeit später wird im Gasthaus mit einem Mal wieder von Liseis Schwester, der Barbara, gesprochen: Am Stammtisch schreit der Bichler: „Hergehört, Herrschaften, was ich erfahren habe. Es ist nämlich vom Tirolerischen ein Schmuser herübergekommen, der für die Weidachertochter einen Hochzeiter sucht. Und von dem habe ich Neuigkeiten! Ich sage euch!“ „Raus mit der Sprache!“, schimpft der Gürtner. „Fragt mich der Schmuser doch, ob man hier schon wisse, dass die Barbara verstorben sei.“ Jetzt gehen die Stimmen durcheinander. Wilde Gerüchte machen die Runde. Jeder hat eine Vermutung. So eine Neuigkeit, von der noch niemand im Dorf etwas weiß, ist fast wie ein Zwölfender vor der Flinte.
Der Bichler grinst und erzählt dann haarklein alles und vielleicht noch das ein oder andere: „Hergehört, wer wissen will, was aus der Barbara vom Armenhaus geworden ist!“ Damit hat er natürlich alle Aufmerksamkeit: „Vom Schmuser weiß ich, dass bei Kitzbiche eine alte Kräuterfrau ihre Dienste anbietet. Wenn eine Frau ein Kind erwartet, es aber nicht haben will, ist das die richtige Adresse.“ „Vielleicht könntest du da einmal deine Mägde hinschicken, Stelzenbauer!“, scherzt der Döglbauer und alle lachen. „Jedenfalls“, fängt der Bichler wieder an, „hat die Barbara – so hat es mir der Schmuser erzählt – eben diese Alte aufgesucht.“ „Und dabei war die Barbara noch nicht einmal an deinem Hof, Stelzenbauer“, wirft der Döglbauer erneut ein und wieder bricht großes Gelächter aus. Die Kräuterfrau habe, so führt es der Bichler dann aus, mit einer langen Nadel – unten eingeführt – das Kind aus dem Bauch von der Barbara herausholen wollen und habe aber statt dem Ungeborenen die Blase erwischt. Die Barbara habe geschrien wie am Spieß, ganz Kitzbiche habe ihre Schreie gehört, aber man habe ihr nicht mehr helfen können. Verblutet sei die junge Frau. „Wie eine frisch geschlachtete Sau!“, lacht der Bichler.
Vom Stammtisch macht die Geschichte die Runde im Dorf. Erst sprechen die Männer darüber, dann die Frauen nach der Messe und zuletzt erzählt sogar der Hochwürden im Religionsunterricht den Kindern die Geschichte von der Barbara als mahnendes Beispiel, nicht vom Weg Gottes abzukommen. Natürlich spekuliert jeder: Ob der Paul das Kind auch nicht habe haben wollen? Oder ob er am Ende die Barbara nicht habe heiraten mögen, weil man mit einer aus dem Armenhaus keine Ehr mache? Ob das Lisei der großen Schwester vielleicht draufgekommen und die beiden in Streit geraten seien, was mit dem ungeborenen Kind zu geschehen habe? Ob die Drud ihre Hände im Spiel gehabt und die arme Barbara mit der Kräuterfrau bekannt gemacht habe? Wie sonst sei das Mädchen, das bereits im nächsten Dorf die Orientierung verloren hätte, in der Lage gewesen, die Frau aus dem Tirolerischen zu finden? Die Huberin bleibt dabei, dass bei all dem Unglück die Unleidl ihre Hände im Spiel gehabt haben muss, während die Mutter weiterhin die Drud im Verdacht hat. Die Tante mahnt hingegen, dass den Leuten aus dem Tirolerischen grundsätzlich nicht zu trauen sei. „Weiß Gott, welches Geschäft sie mit der armen Barbara getrieben haben!“
Geredet ist viel worden, vor allem im Gasthaus, aber gewusst hat keiner etwas. Die Mizzi hat sich am Geplapper der Leute nicht beteiligt. Ihr ist es nur so vorgekommen, als ob es im Tal seit dem Tod vom Lisei mehr geregnet hätte als früher. Aber gewiss weiß man so etwas natürlich nicht.

  • Buchtitel: Talsommer
    ISBN: 978-3-86222-454-8

    E-Book: 17,99

    20,00