Bayerische Geschichte(n), 03/2013: Verschwundene und neue Welten

Das ehemalige Wohnhaus der Familie Roth in Rabitzerhaid im Böhmerwald während des Zweiten Weltkriegs…

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Ort Rabitzerhaid im Böhmerwald, tschechisch Hrabická Lada, existiert nicht mehr. Er ist buchstäblich vom Erdboden verschwunden, nicht einmal Hausruinen sind übrig geblieben. Einzig zwei Kirschbäume auf einer verlassenen Kuhweide erinnern an den großen Bauernhof, der vor 60 Jahren hier stand. Er gehörte der Familie Roth, die 1946 wie die meisten deutschen Bewohner der böhmischen Länder aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben wurde. Die acht weiteren Gehöfte von Rabitzerhaid mussten ebenfalls von ihren Besitzern zurückgelassen werden.

…und die gleiche Stelle im Jahr 2009. Zu erkennen sind noch die Kirschbäume, die der Familienvater in den dreißiger Jahren vor dem Haus pflanzte.

Die Tochter der Familie, Ilse, konnte als Erinnerungsstücke an Rabitzerhaid nur ein Fotoalbum und ihre Singer-Nähmaschine retten, die sie, als die Vertreibung absehbar wurde, in Einzelteile zerlegt über die nahe gelegene Grenze nach Bayern schmuggelte. Ein kostbares Utensil für den Neuanfang: Später sollte Ilse ihre Lehre auf eben jener eisernen Nähmaschine absolvieren, um sich in der „neuen Heimat“ im Allgäu, die noch keine war, eine Existenzgrundlage zu schaffen.

Ilse als etwa siebenjähriges Mädchen im Böhmerwald, Aufnahme 1937/38.

Nach Jahrzehnten besuchte Ilse erstmals ihren alten Wohnort, zunächst unversöhnt über den Verlust. Schließlich machte sie vor einigen Jahren die Bekanntschaft einer jungen tschechischen Familie, die im Nachbarort Nový Svet – übersetzt: „Neue Welt“ – lebt und sich für die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit ihrer Region einsetzt. Ihr Zusammentreffen markierte wiederum einen Neuanfang: Gemeinsam rekonstruierten sie Geschehnisse, Leerstellen füllten sich, Ilses Erzählungen und die geretteten Fotos belebten die verschwundenen Orte.

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Im Jahr 2006 wurde mithilfe deutscher und tschechischer Spendengeber ein Kreuzweg in der Nähe von Rabitzerhaid/Hrabická Lada wieder errichtet.

In Nový Svet führte der Dialog zwischen ehemaligen und jetzigen Bewohnern zur Wiedererrichtung gemeinsamer Erinnerungsorte – ein entscheidender Schritt der Versöhnung für Ilse und eine Bereicherung der tschechischen Gemeinde. Das Buch „Erinnerungskultur und Lebensläufe“, herausgegeben von Marita Krauss, Sarah Scholl-Schneider und Peter Fassl, nähert sich in neuer Perspektive solchen „Erinnerungsräumen“, der Integration der Vertriebenen in Bayern und der Wahrnehmung ihrer Geschichte durch nachgeborene Generationen an.