Bayerische Geschichten 15/2024: Vom Untergang eines Dorfes
Liebe Leserinnen und Leser,
November 1918: Der Erste Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen, da beginnen am Walchensee die Bauarbeiten für eines der bis dahin größten Elektrizitätswerke der Welt. Auch vor dem kleinen Ort Desselgrub macht der technische Fortschritt nicht halt. Seine Bewohner stehen den Neuerungen feindlich gegenüber, bis die Ersten begreifen, dass sich mit Oskar von Millers gewagtem Projekt gutes Geld verdienen lässt.
Nicht nur der Fischer Hartl Lauber steht mit einem Mal zwischen den Fronten und muss einsehen, dass sich sein Freund Veit und auch seine Nachbarin Irmi längst der neuen Zeit verschrieben haben. Der Konflikt im Dorf spitzt sich immer weiter zu – bis eines Tages Gusti, die Frau des Fischers, spurlos verschwindet und alles auf eine große Katastrophe zuläuft.
In kraftvoller, authentischer Sprache erzählt Sandra Altmann von der Entstehungszeit des Walchenseekraftwerks, eines Wunderwerks der Technik, und von einer kleinen Dorfgemeinschaft, die der Streit um den Einzug der Moderne in den Untergang treibt.
Leseprobe:
„Bist viel allein, Irmi?“, beginnt er endlich ein Gespräch. Das lange Schweigen wäre sonst peinlich geworden.
„Auch nicht mehr als sonst“, entgegnet die Irmi. Manchmal ist sie gesprächiger, aber in der Regel kennt der Hartl sie nur kurz angebunden. Und das macht sie noch interessanter. Eine Frau, die ihren eigenen Kopf hat und unfreundlicher ist als die Messerschleifer aus Ohlstadt.
„Herrschaft, Irmi, mir musst du nichts vormachen“, sagt er. „Leg doch den Wäscheklopfer weg und setz dich her zu mir, wo wir endlich einmal allein sind und unter vier Augen reden können.“
„Man ist nie allein in Desselgrub“, schimpft sie. „Ich wüsste auch nicht, was wir zu reden hätten, unter vier Augen erst recht nicht!“
Sie ist eine verwitwete Frau, die Angst um ihren guten Ruf hat, das versteht der Hartl. Er muss sie unbedingt in ein Gespräch verwickeln, das merkt er, sonst wirft sie die Wäsche in den Korb und ist schneller fort, als er sich verabschieden kann. „Irmi, wie ich nach meiner Lehre vom Tegernsee zurückgekommen bin, da hab ich mich so gefreut!“
„So? Gefreut hast du dich?“, sagt die Irmi nur schnippisch.
Der Hartl nickt. „Wohl. Wie ich durch die Jachenau bin, bin ich zur Sankt-Nikolaus-Kirche hinauf und hab gebetet, dass alles gut wird.“
„Es ist ja auch alles gut geworden“, frotzelt die Irmi und zeigt sich erneut unbeeindruckt.
„Weißt, dass ich nichts mehr hab sagen können, wie ich dich mit dem Pius gesehen hab.“
„Woher soll ich das wissen?“, murmelt die Irmi und greift sich das nächste Wäschestück.
„Mit meiner Alten ist es so eine Sache“, spricht der Hartl weiter, „sie geht von Jahr zu Jahr mehr auseinander. Bald passt sie mir nicht mehr durch die Tür.“
„Bist du gekommen, um dich über die Gusti zu beklagen? Wenn es so steht, dann schau zu, dass du weiterkommst. Mit euren Problemen hab ich nichts zu schaffen“, schimpft die Irmi und bearbeitet weiter die Hemden.
„Manchmal denk ich mir, Irmi, dass wir reich hätten werden können. Meine Fische, dein Wald! Sapperlot!“
„So ist das? Hat dir die Gusti zu wenig Mitgift in die Ehe gebracht?“ Das hat der Hartl nicht wollen, offenbar hat sie ihn falsch verstanden, denn ums Geld geht es ihm nicht, jedenfalls nicht allein.
Schon zetert die Irmi weiter: „Dass einer wie du den Hals nicht vollkriegt? Schämen sollst du dich!“ Das ärgert den Hartl, dass sie ihm Geldgier unterstellt.
„Wer schlägt denn ein Drittel auf den üblichen Holzpreis und liefert den Kubikmeter Tanne für 220 Goldmark?“
Jetzt poltert die Irmi erst richtig los: „Sakrament! Ich hab nur das Holz und bin froh, wenn es mir einer in der Menge abkauft. Soll ich von der Hand in den Mund leben?“ Sie funkelt ihn grantig an.
„Du weißt aber schon, dass sie mit deinem Holz die Stollen bauen werden, mit deren Hilfe sie den Jochberg in die Luft jagen?“, provoziert der Hartl sie weiter.
„Kein Mensch sprengt den Berg in die Luft. Ein Tunnel wird gegraben, in dem Wasser fließt. Mehr ist es nicht“, entgegnet die Irmi.
„Das Kraftwerk will am Wallersee keiner. Punktum!“
„Und ich muss auch von etwas leben. Punktum!“ Die Irmi bleibt bei ihrer Meinung, sie ist ein fürchterlich resolutes Weib, aber das gefällt dem Hartl so an ihr. Und natürlich hat sie recht. Das Holz ist ihre einzige Einnahmequelle. Und verkauft sie nicht ihre Bäume, dann tut es ein anderer.
„Es nimmt kein gutes Ende mit dem Kraftwerk“, versucht es der Hartl noch einmal.
„Die Fundamente für das Wasserschloss stehen schon, die ersten Druckrohre werden verlegt. Hartl, mach die Augen auf, die Bauarbeiten laufen, aber die Welt ist immer noch nicht untergegangen“, erklärt die Irmi selbstbewusst.
Der Hartl schaut sie an und schon ist sein Zorn vergessen. Voller Bewunderung ist er für diese Frau, die keine Angst vor der Zukunft hat. „Ich will dir nicht dreinreden, Irmi. Das liegt mir fern.“ Verwundert schaut sie ihn an. Wie kommt es, dass der Hartl sich so schnell beruhigen lässt? Für einen kurzen Moment wirkt sie sprachlos. Der Hartl legt seine Hand auf die ihre. „Ganz eisig bist du“, sagt er. Tatsächlich fühlt sich ihre Hand kalt und furchtbar zerbrechlich an, eigentlich wie die Fische, wenn er sie aus dem Wasser zieht und totschlägt. Wenn er Irmis Finger mit den wurstigen Pranken von der Gusti vergleicht. Du liebe Güte! Der Irmi ihre Hand ist schöner und wertvoller als seine ganze Frau zusammen.
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ISBN: 978-3-86222-503-3 €22,00