Bayerische Geschichte(n), 10/2015: Ich kannte nichts anderes als Verfolgung

Wachtturm

Liebe Leserin, lieber Leser,

Rita Glasner war drei Jahre alt, als Hitler Reichskanzler wurde. Im selben Jahr waren ihre Eltern der Religionsgemeinschaft der Bibelforscher beigetreten. Die Bibelforscher oder Zeugen Jehovas, wie sie sich seit 1931 offiziell nannten, waren überzeugte Kriegsgegner und verweigerten den Hitlergruß, weil sie den Führerkult ablehnten. Nur wenige Monate nach der „Machtergreifung“ wurde die Glaubensgemeinschaft als „eine pazifistische, unkontrollierbaren ausländischen Einflüssen unterliegende und dem Judentum Schrittmacherdienste leistende Organisation“ verboten. Ende 1936 befanden sich bereits viele Zeugen Jehovas in Gefängnissen und Konzentrationslagern, als eine deutschlandweit organisierte Flugblattaktion gegen das NS-Unrechtsregime eine weitere heftige Verfolgungswelle auslöste.

Rita mit Fahrrad

Gefängnisstrafen und selbst Folter hielten Ritas Eltern nicht davon ab, für ihre Überzeugungen einzutreten. Die Schriften der Zeugen Jehovas mussten aus dem Ausland ins Deutsche Reich geschmuggelt werden. In München gab es mehrere Orte, an denen die Zeitschrift „Der Wachtturm“ unter größter Geheimhaltung vervielfältigt wurde, dann übernahmen Kuriere die Verteilung in der Stadt. Nicht nur die Mutter, sondern auch die siebenjährige Rita selbst stellte sich für Kurierdienste zur Verfügung. Als Kind habe man sie nicht so leicht verdächtigt, verbotene Schriften zu transportieren. Wen sie doch einmal glaubte, verfolgt zu werden, machte sie eine Pause und setzte sich mit ihrem Fahrrad ins Gras.

Rita mit Mutter

Obwohl sie sich mit dem Wachtturm unter dem Sattel ihres Fahrrads in Lebensgefahr befand, empfand sie keine Angst: Acht Kilometer weit war die Strecke von der elterlichen Wohnung in der Wasserburger Landstraße bis zu den Bekannten in Denning, die sie beliefern musste. Von wem die Mutter die illegalen Schriften bekam, verriet sie der Tochter nicht, um sie mit diesem Wissen nicht noch mehr zu gefährden. Woher das siebenjährige Mädchen den Mut zu diesen Kurierfahrten nahm und wie geschickt sie darin war, Verfolger abzuschütteln, ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. „Dazu muss man die damalige Zeit verstehen“, erinnert sie sich als über Achtzigjährige: „Die war völlig anders als heute. Ich kannte nichts anderes als Verfolgung und Beobachtung durch die Nazis. Für mich war es selbstverständlich, mich zur Verfügung zu stellen, als meine Mama mich fragte.“

Christoph Wilker, der unter anderem für das NS-Dokumentationszentrum München recherchierte und schrieb, konnte das Vertrauen der Zeitzeugin Rita Glasner gewinnen. Mit der Auswertung ihrer  Gespräche und anhand von hier erstmals veröffentlichten Dokumenten zeichnet er die NS-Zeit aus Sicht einer verfolgten Bibelforscher-Familie nach.