PI: Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte
Rita Glasner war drei Jahre alt, als Hitler Reichskanzler wurde. Im selben Jahr waren ihre Eltern der Religionsgemeinschaft der Bibelforscher beigetreten. Mit sieben erlebte sie, wie die Gestapo die Eltern verhaftete und ihren Vater folterte. Als Kind übernahm sie Kurierdienste und transportierte verbotene Schriften der Zeugen Jehovas. Mit 13 schlug sie sich ganz alleine durch, mit 14 wurde sie Zeugin eines dramatischen NS-Prozesses gegen ihre Mutter, in dem diese zum Tode verurteilt und dann begnadigt wurde. Und erst im Alter von 82 Jahren sprach sie erstmals über die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit.
Die Zeugen Jehovas waren überzeugte Kriegsgegner. Sie lehnten auch den Führerkult ab und verweigerten den Hitlergruß. Die Konsequenz ihrer Haltung führte zu zahlreichen Konflikten mit dem NS-Staat: Bereits im April 1933 wurde die Glaubensgemeinschaft verboten. Mehr als 500 Fälle sind dokumentiert, in denen Kinder aus Bibelforscher-Familien durch den NS-Staat ihren Eltern entrissen wurden. Auch das Mädchen Rita, das im Münchner Stadtteil Waldtrudering aufwuchs, war ständig in Gefahr, Opfer eines solchen Kinderraubs zu werden und in einer NS-Einrichtung einer „Umerziehung“ zugeführt zu werden.
Christoph Wilker, der unter anderem für das NS-Dokumentationszentrum München recherchierte und schrieb, konnte das Vertrauen der Zeitzeugin Rita Glasner gewinnen. Mit der Auswertung ihrer Gespräche und anhand von hier erstmals veröffentlichten Dokumenten zeichnet er die NS-Zeit aus Sicht einer verfolgten Bibelforscher-Familie nach. Er legt dar, warum und wie die Bibelforscher, die sich seit 1931 Zeugen Jehovas nennen, sich nicht vom NS-Überwachungsstaat dessen „Werte“ diktieren ließen und weiter biblischen Maßstäben von Gut und Böse folgten.