Zehn Jahre arabischer Frühling – eine Bilanz

Liebe Leserin, lieber Leser,

vor zehn Jahren begann in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der sogenannte „Arabische Frühling“. In Tunesien und Ägypten stürzten die Diktatoren und es kam zu Unruhen und Massenprotesten in der gesamten arabischen Welt, die sich zur größten Krisenregion der Erde entwickelte – und das unmittelbar vor der Haustür Europas. Franz Maget, langjähriger bayerischer Spitzenpolitiker und zuletzt als Sozialreferent an den Deutschen Botschaften in Tunis und Kairo tätig, beschreibt Ursachen und Verlauf des Arabischen Frühlings, zieht Bilanz und wagt eine Prognose für die weiteren Entwicklungen in den Krisengebieten. Mit Beiträgen von Sonja Zekri, Hoda Salah, Martin Gehlen, Sofian Philip Naceur und Said Al-Dailami und Fotografien von Katharina Eglau.

 

Ägypten: Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Januar 2011 (Fotos: Katharina Eglau)

Im Dezember 2010 löste die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, der einen kleinen Obst- und Gemüsewagen betrieb, den „Arabischen Frühling“ aus. Der junge Mann hatte für den mobilen Verkaufsstand keine offizielle Lizenz und war bereits mehrfach kontrolliert worden. Eine erneute Kontrolle mit anschließender Konfiszierung seiner elektronischen Waage endete in Handgreiflichkeiten, in deren Verlauf eine Polizistin Bouazizi geohrfeigt haben soll. Der Gemüsehändler zog vor den Gouverneurspalast, um gegen seine Behandlung zu demonstrieren, und steckte sich schließlich selbst in Brand. Der schreckliche Vorfall erregte massives Aufsehen und erste Demonstranten fanden sich ein. Die flächendeckende Berichterstattung durch den Fernsehsender „Al Jazeera“ und die sozialen Medien befeuerten die Empörung und den Unmut in Tunesien und der gesamten arabischen Welt.

 

 

Jemen 2011: Mit dem Schriftzug „Übergangsrat“, der neben den Farben der Landesflagge das Gesicht des Jungen ziert, wird eine verfassungsgebende Versammlung gefordert.

In vielen arabischen Staaten, vor allem in Niedriglohnländern wie Ägypten, trafen die Bilder aus Tunesien auf eine Bevölkerung, deren Leben von einer prekären wirtschaftlichen und sozialen Lage geprägt war. Hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsaussichten vor allem der jungen Generation trugen ihr Übriges zur Eskalation bei. Ermutigt durch das tunesische Vorbild, kam es im Januar 2011 auch in Ägypten zu ersten größeren Demonstrationen. Menschen aus unterschiedlichen Lagern traten Seite an Seite für ihre Rechte ein und überwanden sogar ideologische und religiöse Gräben. In der Folge erfasste die „Arabellion“ fast die gesamte arabische Welt. Die Demonstrationen richteten sich gegen Diktatoren und autokratische Herrscher, die Menschen forderten soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Würde.

 

 

Libyen: Autokorso durch die Hauptstadt Tripolis, August 2011

In Tunesien und Ägypten stürzten die langjährigen Machthaber, in Libyen wurde nach einer militärischen Intervention westlicher Staaten der Diktator Muammar al-Gaddafi getötet und in Syrien wie auch im Jemen kam es zu verheerenden Bürgerkriegen, die bis heute andauern. Welche Bilanz kann man also aus den zehn letzten Jahren ziehen? Zu welchen Umwälzungen ist es mit Blick auf die Gegenwart bislang gekommen? Welche Konzepte sind im Hinblick auf die internationalen Beziehungen für die Zukunft notwendig und welche Erwartungen sind erfüllt worden? Eines hat der Arabische Frühling auf jeden Fall gezeigt: dass auch die Menschen in der arabischen Welt bereit sind, für ihre Rechte einzutreten.