Münchner Geschichte(n), 04/2014: Reise in eine schreckliche Vergangenheit

Alfred Koppel mit seinem jüngeren Bruder Walter auf dem Schulweg in der Maximilianstraße.
Alfred Koppel mit seinem jüngeren Bruder Walter auf dem Schulweg in der Maximilianstraße.

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Erinnerungen überwältigten Al Koppel, als er nach fast fünfzig Jahren in die Herzog-Rudolf-Straße in München einbog: Er sah dieselbe kopfsteingepflasterte Straße – und sogar der kleine Süßigkeitenladen war noch da, in dem er vor oder nach der Schule sein kleines Taschengeld für ein paar Bonbons gelassen hatte. Vor allem aber stiegen in ihm schmerzlich die Bilder jenes 10. Novembers 1938 auf, als er – wie jetzt – an der Straßenecke vor dem Süßigkeitenladen haltgemacht und auf die brennende Ohel-Jakob-Synagoge geschaut hatte: „Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie die Feuerwehrleute nichts taten, um die Flammen zu löschen, sondern nur dastanden und zusahen, wie das Gebäude brannte.“

Das ausgebrannte Gebäude der Ohel-Jakob-Synagoge in München nach der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 (Foto: Stadtarchiv München).
Das ausgebrannte Gebäude der Ohel-Jakob-Synagoge in München nach der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 (Foto: Stadtarchiv München).

In Amerika war aus dem jüdischen Jungen Alfred Koppel der Handlungsreisende Al Koppel geworden. Zur Zeit der November-Pogrome war er zwölf Jahre alt. Zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern lebte er in einem eleganten Mietshaus in der Maximilianstraße. Jeden Morgen legte er mit seinem jüngeren Bruder Walter den kurzen Weg zur jüdischen Schule zurück, die sich direkt neben der Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße befand. Beißender Rauch schlug ihm hier am Morgen nach der sogenannten „Kristallnacht“ entgegen. Polizisten drängten die Schaulustigen zurück. Ein Lehrer schickte die Jungen nach Hause. Als Alfred Koppel und sein Bruder zu Hause ankamen, sahen sie gerade noch, wie der Vater abgeführt und auf einen Lastwagen gestoßen wurde. Die brennende Synagoge war nur der Anfang gewesen. Es folgten Jahre in Angst und Schrecken. Noch Jahre später erinnerte sich Al Koppel an einen Hitlerjungen, der ihn auf der Straße als „Judenschwein“ beschimpfte und mit seinem Ledergürtel verprügelte.

Alfred Koppel in den 1960er Jahren in Amerika mit seiner Frau Jean und ihren fünf Kindern.
Alfred Koppel in den 1960er Jahren in Amerika mit seiner Frau Jean und ihren fünf Kindern.

Das ganze Ausmaß der Katastrophe für seine Familie sollte ihm jedoch erst bewusst werden, als er längst in Amerika lebte. Ihm und seinem Bruder Walter war es mit Hilfe einer jüdischen Kinderhilfsorganisation gelungen, Mitte 1941 in die USA auszureisen. Der Vater, der mehrmals verhaftet worden und zeitweise im Konzentrationslager Dachau interniert war, konnte schon 1940 emigrieren. Jahrzehnte nach dem Tod des Vaters öffnete Al Koppel in Denver eine Schachtel mit Briefen aus Deutschland – und stieß auf die erschütternden Dokumente einer jüdischen Familie, seiner eigenen Familie. Auf mehreren Reisen in seine eigene Vergangenheit versuchte er das Schicksal seiner Mutter und seiner vier Geschwister zu rekonstruieren.

Die Eltern Carl und Carola Koppel in den 1920er Jahren.
Die Eltern Carl und Carola Koppel in den 1920er Jahren.

Carola Koppel war mit ihren Kindern Günther, Hans, Ruth und Judith in München geblieben. Bis zuletzt hoffte sie, ebenfalls ein Visum zu erhalten. Die Briefe, die sie ihrem Mann nach New York schickte, sind ein eindrückliches Zeugnis für den Zustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung, in dem sich unzählige jüdische Familien in Deutschland befanden. „Dies ist mein letzter Brief…“, schrieb Carola Koppel im November 1941 wenige Tage vor ihrer Deportation nach Kaunas, wo sie und ihre Kinder ermordet wurden.

2010 erschien Al Koppels Buch „My Heroic Mother“ auf Englisch. Ilse Macek und Friedbert Mühldorfer geben es jetzt auf Deutsch mit den Originalbriefen unter dem Titel „Dies ist mein letzter Brief…“ heraus.

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