Bayerische Geschichte(n), 4/2020: Eine böhmische Spurensuche in München

Allein von Ende Januar bis Ende Oktober 1946 trafen 86.474 sudetendeutsche Heimatvertriebene in Zügen mit jeweils 40 Waggons zu je 30 Personen am Zielbahnhof München-Allach an (Foto: BayHStA, SdA, Bildarchiv 21337).

Lieber Leserin, lieber Leser,

die böhmisch-bayerische Beziehung war von Anfang an ein wechselseitiges Verhältnis. Während die hochangesehene Münchner Kunstakademie in der Zeit der Jahrhundertwende zahlreiche böhmische Künstler anlockte, war es in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges die Tschechoslowakei, die deutschen Schriftstellern wie Oskar Maria Graf oder Rolf Reventlow einen Zufluchtsort auf Zeit bot. Mit Kriegsende wiederum entwickelte München eine neue Sogkraft: Vertriebene Sudetendeutsche und Menschen aus anderen Teilen Osteuropas siedelten sich in der Isarmetropole auf der Suche nach Sicherheit und einer neuen Heimat an. Mehr als 143.000 Vertriebene sollten in den Folgejahren maßgeblich zum Wiederaufbau beitragen und das Leben in München vielfältig befruchten.

 

Haro Senft (rechts), geboren 1928 in Budweis, war einer der Mitbegründer von „DOC 59 – Gruppe für Filmgestaltung“, die in München ins Leben gerufen wurde. Gründungslokal: Schwabinger Weinbeißer, Hohenzollernstr. 8. Daneben sein Filmkollege Jaromir Šofr (Foto: Archiv Haro Senft).

Bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verewigten die Regisseure und Produzenten Haro Senft und Ferdinand Khittl, zwei gebürtige Böhmer, München auf der Leinwand. Mit Kurzfilmen wie „Von 6 bis 6“ (Viktualienmarkt) oder „Großmarkthalle“ rückten sie in den 1930er Jahren zwei ganz traditionelle Münchner Orte in den Mittelpunkt und stellten sich damit auch in die Tradition des Schriftstellers Rainer Maria Rilke. In seiner Novelle „Ewald Tragy“ hatte dieser bereits 1898 die Handlung zwischen Schwabinger Kneipen, Oktoberfestwiese, Englischem Garten und dem beliebten Künstlertreffpunkt Café Luitpold spielen lassen – und damit seinen einjährigen Aufenthalt in der Isarmetropole literarisch verarbeitet.

 

Der Sender Radio Free Europe war einer der wenigen Arbeitgeber in München, bei dem tschechische Emigranten gut bezahlt wurden und in ihrer Muttersprache tätig sein konnten (Bild: Radio Free Europe/Radio Liberty).

Ab dem 1. Mai 1951 versorgte der Radiosender „Radio Free Europe“ knapp 45 Jahre lang die Bewohner der Ostblockstaaten mit den wichtigsten Nachrichten aus aller Welt, die in den heimischen Ländern aufgrund der kommunistischen Zensur oft nicht gesendet wurden. Um elf Uhr ging der Sender mit folgenden Worten (in Tschechisch) auf Sendung: „Hier ist die Stimme der freien Tschechoslowakei, der Rundfunksender Freies Europa. Über diesen Sender werden die freien Tschechen und Slowaken zu ihren unterjochten Landsleuten sprechen.“ Die aufklärerische Tätigkeit von Radio Free Europe war jedoch nicht überall gern gesehen: Ein Bombenattentat am 21. Februar 1981 zerstörte einen Teil des Gebäudes in der Oettingenstraße 67 erheblich und verletzte drei Mitarbeiter schwer.

 

München war und ist seit vielen Jahrzehnten ein Magnet für Menschen aus den benachbarten böhmischen Ländern. Die Spuren, die diese Verbindungen in der Isarmetropole hinterlassen haben, sind dementsprechend vielfältig. In den 16 Beiträgen von Böhmische Spuren in München kommen Geschichte und Gegenwart gleichermaßen zu ihrem Recht: Ereignisse wie das Münchner Abkommen, Persönlichkeiten wie Franz Kafka oder Alfred Kubin, Institutionen wie das Sudentendeutsche Haus werden ebenso in den Fokus genommen wie die Wechselwirkungen in Literatur, Kunst, Musik und Architektur.