Bayerische Geschichte(n), 24/2017: „Märchen sind keine Kindergeschichten“

Als „Hahn auf dem Seil“ vollführt der Schwarzkünstler im gleichnamigen Märchen amüsante Kapriolen. Doch wehe, wenn er seine dunkle Magie zum Einsatz bringt … (Holzschnitte: Michael Mathias Prechtl)

Liebe Leserin, lieber Leser,

Erika Eichenseer, Vizepräsidentin der Schönwerth-Gesellschaft, hat vollkommen recht, wenn sie feststellt: „Märchen sind keine Kindergeschichten.“ Früher waren sie den Erwachsenen vorbehalten, die sich die langen Winterabende mit dem Erzählen der Märchen versüßten – und umso größer war der Unterhaltungswert, je besser es sich zu den teils uralten Geschichten gruseln ließ. Das Fürchten zu lernen, übt eben seit jeher nicht nur auf den jungen Burschen des gleichnamigen Grimm’schen Märchens einen unwiderstehlichen Reiz aus. Überhaupt gehören die Angst und ihre Überwindung zu den großen Themen fast jeder Erzähltradition. Was die märchenhaften Geschichten aber so besonders macht, ist die Konsequenz, mit der sie das Grauen personifizieren: Hier lauert kein unbestimmtes Übel in den Schatten, keine diffuse Furcht vor der Zukunft lässt es den Menschen bang ums Herz werden. Nein, jede Angst hat ein Gesicht und einen Körper – und kann deshalb besänftigt, überlistet und vollends besiegt werden.

Der Mondmann – bei Schönwerth kein allzu freundlicher Geselle

Franz Xaver von Schönwerth (1810-1886), königlich-bayerischer Ministerialrat, Sprachforscher und bedeutender Volkskundler, durchstreifte um die Mitte des 19. Jahrhunderts das ländliche Bayern und hielt die sprachlichen Eigenheiten der Leute, ihre Traditionen und lange Zeit nur mündlich überlieferten alten Geschichten akribisch fest. Die unzähligen Märchen, die dabei den Weg in seine Sammlung fanden, bergen für uns heutige Leser große historische Tiefe und geben Einblick in eine Zeit, zu der die Justiz noch mit Rad und Galgen herrschte und der Aberglaube tief im Volk verwurzelt war. Die damals ebenfalls sehr umtriebigen Gebrüder Grimm schätzten ihren Zeitgenossen und Kollegen Schönwerth sehr und bewunderten vor allem sein feines Gespür für die urwüchsige ländliche Sprache, deren herben Witz und einzigartige Kraft, die er wie kein Zweiter in seiner Märchensammlung festzuhalten verstand.

Der Held des Märchens „Die drei Ungeheuer“ macht sich auf, ein verwunschenes Schloss von seinem Fluch zu befreien und bekommt es dabei nicht nur mit einer gewaltigen Schlange zu tun.

Alle 30 Schauermärchen, die von Erika Eichenseer aus dem Nachlass des Forschers ausgewählt wurden, demonstrieren die einmalige Qualität der Sprache Schönwerths, haben es aber nicht nur sprachlich in sich: Unter dem blutroten Einband des Lesebuchs geht es wahrlich furchterregend zu. Da fallen junge Müllersknechte gleich reihenweise einer durchtriebenen Hexe zum Opfer, ein mörderischer Bräutigam hat es auf Leib und Leben seiner Zukünftigen abgesehen, Köpfe rollen und die Toten stehen wieder aus ihren Gräbern auf. Druden, Riesen und Schwarzkünstler treiben ihr Unwesen – bis sie auf ihren Meister treffen, sei es der unerschrockene Bursche mit Bärenkräften oder die mutige junge Frau mit ihrem untrüglichen moralischen Kompass und dem großen Herzen.

Als Erika Eichenseer vor einigen Jahren einen wahren Schatz an Märchen, Sagen und Legenden entdeckte, der lange Zeit im Nachlass von Franz Xaver von Schönwerth verborgen geblieben war, stand die Märchenwelt Kopf. Jetzt sind die schönsten Schauermärchen aus diesem schier unerschöpflichen Fundus zum ersten Mal in einem Band versammelt: 30 handverlesene Erzählungen sorgen für Gänsehaut. Eine Rarität sind die Holzschnitte des Künstlers Michael Mathias Prechtl, die von ihm eigens für die Märchen der Sammlung Schönwerth angefertigt wurden und allen fantastischen Gestalten mal schaurig, mal betörend schön Gestalt verleihen.