Bayerische Geschichten 20/2024: Sperling ermittelt
Liebe Leserinnen und Leser,
ist der Friede in Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft mehr wert als die Wahrheit? Im beschaulichen Prittlbach an der Grenze zum Münchner Speckgürtel gehen die Meinungen auseinander. Einig ist man sich nur, dass eine junge Mutter sich gefälligst um Kind und Küche zu kümmern hat, anstatt ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken! Doch Stephanie Sperling hat eine Berufskrankheit: Die Polizistin kann auch in Elternzeit nicht lockerlassen, wenn ihr untrüglicher Gerechtigkeitssinn Alarm schlägt. Und im Fall der jungen Altenpflegerin, die eines Morgens erstickt in ihrem Bungalow liegt, passt so einiges nicht zusammen …
Michael Erle kennt die Fallstricke des dörflichen Zusammenlebens: Der Autor und Musiker lebt selbst im Dachauer Land. Sein moderner, aus dem Leben gegriffener Krimi punktet mit authentischem Lokalkolorit, trockenem Humor und einer in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Ermittlerin mit „Anhang“.
Wir wünschen viel Vergnügen mit der Leseprobe:
Stephanie zupfte Zaunwinde und Aronstab aus, befreite davon jeden Quadratzentimeter Rasen bis an die Umfriedung der Pressbetonsteine, die den Garten säumten. Draußen auf der Wiese wuchsen die Unkräuter frei und in schier beängstigenden Massen. Diesseits der grauen Palisade landeten sie im Kunststoffeimer.
Stephanies Schläfen juckten, sie rieb mit den Handrücken darüber und hinterließ lehmfarbene Spuren.
„Nimm mal“, hörte sie Lukas’ Stimme hinter sich und als sie sich umdrehte, hielt er ihr ein großes Glas mit Wasser entgegen. Eine Zitronenscheibe schaukelte an der Oberfläche, sanft angestoßen von den Kohlensäurebläschen, die vom Boden des Glases aufstiegen.
„Oh, danke, Schatz“, antwortete sie, beugte sich vor und sog mit spitzen Lippen am Strohhalm.
Ihr Blick wanderte über den Gartenzaun hinaus, die Zeile der Reihenhäuser entlang bis hin zur Hügelkuppe. Oben auf dem geschotterten Weg, der vom Leitenberg herführte, tauchten zwei Gestalten auf, ein Mann und eine Frau. Sie hatte grau-weiße Haare, er eine Halbglatze und als die beiden ein Stück weit über die Kuppe gekommen waren, erkannte Stephanie enganliegende Sporthemden, ultramarin und schwarz, im Partnerlook, dazu die identischen cremefarbenen Tragegurte von kleinen Rucksäcken über den Schultern. Der Mann war kaum größer als seine Partnerin, dafür deutlich schlanker – sportlich, eckig, straff. Der sanfte Wind trug das Geräusch ihrer Schritte auf dem losen Untergrund herüber, pointiert vom sanften Klacken der Nordic-Walking-Stöcke, die sie benutzten.
Der Weg führte das Walker-Paar näher und Stephanie war überrascht, als die beiden zackig abbogen und über die Wiese direkt auf sie zukamen. Kurz vor dem Gartenzaun des Anwesens Sperling hielten sie an, der Mann zog seine Sporthandschuhe aus, seine Begleiterin stützte sich auf ihre Stöcke und lächelte Stephanies Sohn an, der auf einer Babydecke im Schatten lag. Er blickte mit großen Augen und offenem Mund zurück.
„Gegen den Giersch hilft es, den Boden abzudecken. Pappe im Frühjahr“, eröffnete der quadratische Mann das Gespräch.
Stephanie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Jünger, vielleicht in einem alten TV-Film.
„Man spart sich eine Menge Arbeit“, pflichtete ihm die Frau bei. Sie trug eine Brille mit auffallendem hellen Rand und hatte ein grell gelbes Schweißband um den Kopf gelegt. Beides leuchtete wie Verkehrszeichen im Dunklen. „Was habe ich an Stunden damit verbracht, Unkraut auszurupfen. Mit den Stengeln ist es ja nicht getan, man muss die Wurzeln erwischen.“
„Ja, das braucht Zeit“, antwortete Stephanie etwas ratlos.
„Das muss Ihr Sohn sein“, nahm der Mann das Gespräch wieder an sich und löste Stephanies inneren Alarm aus. „Wie alt ist er jetzt? Ein Jahr?“
„Ach geh, Alwin. Der ist doch noch kein Jahr alt“, rüffelte ihn die Frau mit dem Stirnband. „Sechs Monate, hab ich Recht?“
Lukas warf seiner Frau einen verwunderten Blick zu, doch bevor sich einer der beiden zu einer Antwort durchringen konnte, fuhr der Mann auf der anderen Seite des Zauns fort: „Wenn man einmal selber Unkraut jätet, bekommt man erst so richtig eine Wertschätzung dafür, wie viel Arbeit es ist. Der Rasen auf dem Golfplatz. Zwanzig Hektar, makellos. Ich bin Mitglied ganz in der Nähe, auf der anderen Seite der Amper. Schöner Platz. Ruhig. Historisch natürlich nicht ganz unproblematisch.“
Ein Moment verging, währenddessen er scheinbar einem Gedanken nachhing. „Wissen Sie, ich spiele Golf nicht wegen der Leute. Manche machen das natürlich. Ich hab lieber meine Ruhe. Genug Leute im Beruf. Deswegen hab ich mich fast ein bisschen geärgert. Der Mann kennt keine Privatsphäre.“
„Wer, der Ferdinand Brazmaier?“, riet Stephanie, einer Eingebung folgend.
„Den Herren kenne ich nicht“, meinte der Glatzköpfige. „Welch! Welch heißt der Mann. Den könnten Sie kennen, hat hier in Prittlbach auch geschäftlich zu tun. Ich habe über die Jahre ein paar von dem Kaliber erlebt. Wenn die sich die Mühe machen und klagen und sich beschweren, dann nie ohne Grund. Den Grund verraten sie aber nicht, zumindest nicht den wahren. Meistens kann man den nur mit tiefschürfender Arbeit ermitteln. Dann findet man etwas raus, was einem nicht gefällt. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.“
„Jemand hat sich bei Ihnen über mich beschwert?“ Noch als sie die Worte aussprach, wusste Stephanie, woher sie den Mann kannte, der vor ihr stand. Sein Foto – wenn auch beileibe kein aktuelles – fand sich neben dem Vorwort der Mitarbeiterzeitschrift, die zweimal jährlich an ihrer Dienststelle verteilt wurde. Alwin Eibl war der Polizeipräsident des Präsidiums Oberbayern Nord, persönlich hatten sie sich noch nie getroffen. Die Erkenntnis ließ ihr die Haare zu Berge stehen.
„Beschwert? Ja, offenbar belästigen Sie hier die Bürger“, meinte Eibl. „Wie gesagt, meistens haben diese Typen ein Motiv, wenn sie jammern. Ich meine, Sie sind nicht einmal im Dienst, und dieser Welch kommt extra an einem Sonntag zu mir in den Golfclub, um Ihnen einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen.“ Er nickte, wortlos, wie ein Handwerker, der ein gut gelungenes Werkstück betrachtet. „Ich persönlich würde ja sagen, dass Sie Ihre Arbeit gut machen, aber Sie sind ja in Mutterschutz, deswegen kann es ja nicht Arbeit sein.“
„Elternzeit“, warf Lukas ein.
Stephanie unterdrückte den Impuls, ihn zu erwürgen.
„Wie bitte?“, fragte Eibl.
„Stephanie ist in Elternzeit. Mutterschutz sind nur sechs Wochen nach der Geburt.“
„Ah, richtig. Nun, wie dem auch sei. Frau Sperling, Sie haben nichts verloren in der Sache. Aber offenbar hält Sie das nicht auf. Ich kann Ihnen natürlich jetzt keine Anweisungen geben, noch nicht einmal Hinweise. Aber ich bin ja auch nicht dienstlich hier.“
„Wir machen einen Ausflug“, pflichtete ihm seine Begleiterin bei. Sie hatte begonnen, auf der Stelle zu gehen, zog die Knie dabei übertrieben hoch.
„Reiner Zufall also, dass ich Sie treffe“, fuhr der Polizeipräsident fort. „Im Grunde weiß ich ja nicht einmal, wer Sie sind, wir haben uns nicht vorgestellt. Deswegen nur so viel: Lassen Sie diesen Fisch nicht von der Angel. Und seien Sie besonders vorsichtig. Sie sind nur eine Zivilistin. Wenn Sie jetzt in Schwierigkeiten geraten, könnte das das Ende Ihrer Karriere bedeuten. Und es wäre jammerschade, wenn wir Sie verlieren. Jammerschade.“
Die Frau hielt in ihrem stationären Trab inne und tippte Eibl auf die Schulter. „Du hast mir immer noch nicht erklärt, worum es eigentlich geht.“
„Das muss doch Frau Sperling erst noch rausfinden“, brummte er, verabschiedete sich ausgesprochen knapp und walkte weiter, seine Begleiterin dicht auf seinen Fersen, ins Tal hinunter.
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ISBN: 978-3-86222-510-1 €16,90