Bayerische Geschichte(n), 17/2017: Oskar Maria Graf bittet zu Tisch

Was passiert in Grafs Texten, wenn der Mensch ganz Körper, ganz ungebremster, begieriger Genuss wird? Er scheidet beim Vertilgen des sage und schreibe neununddreißigsten Leberknödels als Held aus der Welt, wie der Imsinger-Girgl (Illustration: Peter Engel).
Was passiert in Grafs Texten, wenn der Mensch ganz Körper, ganz ungebremster, begieriger Genuss wird? Er scheidet beim Vertilgen des sage und schreibe neununddreißigsten Leberknödels als Held aus der Welt, wie der Imsinger-Girgl (Illustration: Peter Engel).

Liebe Leserin, lieber Leser,

als literarische Motive eröffnen Essen und Trinken ein schier unermessliches Feld. Für Oskar Maria Graf muss es eine gewaltige Freude gewesen sein, dieses Feld bis in die kleinsten Winkel auszuloten. Und dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund: In Grafs Texten wird nicht vornehm diniert, sondern mit unbändiger Lust gefressen und gesoffen – und manchmal auch ungeniert auf den Boden gespuckt. Schonungslos, deftig und höchst unterhaltsam malt Graf, der sich selbst gern als bayerischer Naturbursch‘ inszenierte, seine Heimat aber stets genau im kritischen Blick hatte, ein Sittengemälde des Freistaats und seiner Bewohner. Die bayerische Tischkultur offenbart dabei den Zustand der Gesellschaft. Scharfsinnig derbleckt Graf die kuriosesten Exemplare seiner Mitmenschen, kommentiert die politische Situation und bringt die Mentalität eines ganzen Landstrichs unvergesslich zu Papier.

Der gefährliche Rausch: Der Maunzinger-Feschl kann sich bis heute nicht erklären, warum ihm seine Gattin daheim den „Leberkäs“ ins Gesicht geschmissen hat und dass der gestunken hat wie ein Misthaufen … (Illustration: Peter Engel)
Der gefährliche Rausch: Der Maunzinger-Feschl kann sich bis heute nicht erklären, warum ihm seine Gattin daheim den „Leberkäs“ ins Gesicht geschmissen hat und dass der gestunken hat wie ein Misthaufen … (Illustration: Peter Engel)

Fünf Kapitel mit Satiren, Schnurren, Anekdoten und auch autobiografischen Texten sind Tafelfreuden und Hungerjahren, dem gepflegten Rausch und dem jetzt aber wirklich allerletzten Schluck gewidmet. In „Ungenießbar bis tödlich“ offenbart der ungebremste Genuss schließlich auch seine gefährlichen Seiten – wenn beispielsweise dem Maunzinger-Feschl von Argelsried besagter allerletzter Schluck einfach nicht gelingen will und zu Hause die Gattin vom Kaliber einer veritablen Beißzang‘ wartet. Nur ein Pfund Leberkäs kann die Gemüter beruhigen. Leider hat der Maunzinger nicht mit der Umtriebigkeit seiner Stammtischbrüder gerechnet, die sich mit ihrer Lust am derben  Witz als typische Bayern erweisen: Was nämlich der Fingerer, nachdem er den Leberkäs erst dreist entwendet und dann gegessen hat, dem arg betrunkenen Maunzinger im Einwickelpapier hinterlässt, wollen wir gar nicht so genau wissen …

Da ging’s mit dem Xaver dahin. Ob man ihn wirklich mit dem geliebten Kaffeehaferl beerdigt hat, ist nicht überliefert (Illustration: Peter Engel).
Da ging’s mit dem Xaver dahin. Ob man ihn wirklich mit dem geliebten Kaffeehaferl beerdigt hat, ist nicht überliefert (Illustration: Peter Engel).

Was es mit dem Adjektiv „tödlich“ im Detail auf sich hat, muss der Pfeifer Xaver vom Wagnerhof in Bolwang auf leider endgültige Weise erfahren. Dabei hatte er sich doch so gut mit seinem älteren Bruder, dem Sepp, im elterlichen Haus eingerichtet. Das Erbe war verteilt, sein Wohnrecht auf Lebenszeit hatte er sich ausbedungen und zwei Klafter Holz im Jahr dazu. Ein großer Esser war der Xaver nie gewesen und sein bescheidenes Vermögen hielt er ohne Knauserei im feuerfesten Geldkasterl daheim im Kommodkasten beisammen, anstatt es ins Wirtshaus zu tragen. Nur den Kaffee, den mochte er schon sehr gern. Dass der Xaver jetzt jeden Tag, in der Früh und am Abend, sein „Spaziertrankerl“ umsonst bekommen sollte, schmeckte dafür seinem Bruder und der Schwägerin überhaupt nicht. Aber jede gute Hausfrau hat natürlich immer ein Pulver gegen die lästigen Ratzn im Haus …

Oskar Maria Graf und der ungebremste Genuss: 18 ausgewählte Texte des Schriftstellers rund ums Essen und Trinken – und ein Diät-Gedicht fürs schlechte Gewissen – sind erstmals in einem Band versammelt. Waldemar Fromm und Wolfgang Görl, beide im Vorstand der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft, setzen dem bayerischen Literaten von Weltformat mit „Rausch und Völlerei“ ein besonderes Denkmal. Begleitet werden die Geschichten von den genialen Federzeichnungen des Künstlers Peter Engel.