Bayerische Geschichte(n), 15/2013: Die Römer sind schuld
Liebe Leserin, lieber Leser,
was macht eine bayerische Hausfrau, wenn ein Rezept die Beigabe von säuerlichen Kirschen erfordert? Sie notiert „Weichseln“ auf ihrem Einkaufszettel, fragt im Supermarkt nach „Sauerkirschen“ und bekommt schließlich ein Glas „Schattenmorellen“. Wer soll das verstehen? Die bayerische Weichsel hat wie die norddeutsche Morelle ihre Wurzeln im Lateinischen: Für die Römer war „viscum“ der Vogelleim aus Kirschbaumharz. Daraus wurde das althochdeutsche „vichsel“, mit dem man irgendwann nicht nur das Harz, sondern auch die Frucht des Baums bezeichnete. Hildegard von Bingen hingegen verzeichnete die „bittere, saure Kirsche“ als „cerasus amarellus“. Daraus entwickelte sich die „Morelle“. Nun mag die Weichsel zwar die älteren Namensrechte haben, außerhalb des bairischen Sprachraums kennt man sie trotzdem nicht.
Außerhalb Süddeutschlands sucht man auch die Semmel vergebens. Allerdings kann man den Bewohnern Restdeutschlands ihre Brötchen kaum zum Vorwurf machen. Nördlich des Limes, vom römisch besetzten Germanien abgegrenzt und im damals reinen Roggenanbaugebiet, wusste man natürlich nichts vom Namen gebenden lateinischen simila, dem feinen, hellen Weizenmehl südlicherer Gefilde. Dazu ist die lateinische Sprachprägung vermutlich sogar an der bayerischen Ablehnung der Verkleinerungsform –chen Schuld. Schon die Römer machten aus einem ausgewachsenen ursus mit Hilfe eines -l den ursulus, den kleinen Bären, und in sprachlicher Loyalität minimiert auch der Bayer seine Frühstückssemmel höchstens noch weiter zum Semmerl.
Aber nicht nur die Römer hatten das Privileg, die bayerische Sprache zu bereichern. Noch aus Zeiten napoleonischer Eroberungszüge stammen das „Kanapee“ im Wohnzimmer oder das „Schmiserl“ am Leib, das bei Regen mit dem „Paraplui“ vor Nässe geschützt werden muss. Weitaus ungnädiger geht man in Bayern dagegen mit sprachlichen Neuzugängen wie dem ungeliebten „Tschüß“ um – vielleicht weil es aus dem linguistisch doch so fernen Norden zu uns kam? Niederländische Seeleute machten aus dem spanischen adios ein adjüs, das über die niederdeutsche Sprachverwandtschaft langsam seinen Weg Richtung Süden fand. Der wahre Bayer bleibt da seinem charmant-markigen „Pfia God“ und „Habe die Ehre“ treu. Oder er greift noch einmal auf die gute römisch-bayerische Sprachtradition zurück und empfiehlt sich mit einem ordentlichen „Servus!“: Zu Diensten!
Der BR-Journalist Gerald Huber beleuchtet in seiner „Bairischen Wortkunde“ nicht nur das antike Spracherbe des Bairischen. Mit wissenschaftlichem Fachwissen und einer großen Portion Humor lässt er den verkannten Dialekt wieder zum kraftvollen Stück Kulturgut werden – mit Selbstbewusstsein auf der Zunge zu tragen!
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ISBN: 978-3-86222-241-4 €19,90