Bayerische Geschichte(n), 13/2014: Vom wundersamen Wasser
Lieber Leserin, lieber Leser,
fünfzig Jahre lang hat das „Furtner Mädei“ nichts gegessen. Als Zwölfjährige überlebte die kleine Maria aus Waizenreit bei Frasdorf die Schwarzen Blattern, eine besonders schwere Form der Pockenerkrankung. Danach hörte sie allmählich auf zu essen, bis sie schließlich nichts mehr zu sich nahm als das Wasser aus einer Quelle nahe dem elterlichen Hof. Ihre Geschichte, die der Volksliedsammler Wastl Fanderl aufzeichnete, hat nicht nur Eingang in den Legendenschatz des Chiemgaus, sondern sogar in medizinische Fachbücher gefunden. Bis in unsere Zeit gibt es viele Menschen, die an die Heilkraft des Wassers aus Waizenreit glauben und die kleine Quelle mit Blumen schmücken.
Maria Furtner wurde 1823 auf dem Einödhof Waizenreit geboren, wo sie als Ältestes von sechs Geschwistern eine glückliche Kindheit verbrachte. „Sie aß und trank wie die anderen auch“, schrieb Wastl Fanderl über sie. Nach der schweren Erkrankung aber erholte sie sich nur langsam, irgendwann trank sie nur noch das Wasser aus dem Hausbrunnen. Zwei- bis dreimal in der Woche nahm sie außerdem in der Kirche eine geweihte Hostie zu sich und im Frühling zuweilen ein wenig frischen Birkensaft. Der ungewöhnliche Fall des „Furtner Mädei“ erregte großes Aufsehen und zog schließlich sogar das Interesse der königlichen Regierung in München auf sich. Man vermutete einen schlau eingefädelten Betrug und wies sie deshalb in der Landeshauptstadt ins Allgemeine Krankenhaus ein. Dort stellte man sie unter strenge Quarantäne, versiegelte die Fenster und kontrollierte alle Besucher, damit niemand der vermeintlichen Simulantin Essen ins Zimmer schmuggelte.
Nach fünf Wochen bescheinigten ihr die gelehrten Herren, dass es keinen Grund gebe, „Betrug, Prahlerei oder Täuschung aus Gewinnsucht anzunehmen“ – helfen konnten sie ihr freilich nicht. Maria wurde entlassen und zu Fuß nach Hause in den Chiemgau geschickt. Das Wasser aus Waizenreit, das dort noch heute in eine Viehtränke rinnt, ist bei Weitem nicht die einzige heilkräftige oder gar wundertätige Quelle im Chiemgau: Das Wasser, das im beschaulichen Weiler Leonhardspfunzen am Inn zutage tritt, soll wahre Wunder gegen Rückenleiden und sogar gegen Depressionen vollbringen – vor allem wenn es in Vollmondnächten abgefüllt wurde. Und auch die wohl berühmteste bayerische Heilquelle in Bad Adelholzen, in der heute jährlich 400 Millionen Wasserflaschen abgefüllt werden, geht auf eine wundersame Heilung zurück.
Das Buch „Unbekannter Chiemgau“ kann und will den Chiemgau nicht neu erfinden. Es will vielmehr auf seine Schönheit hinweisen, die manchmal nur ein paar Meter abseits der ausgetretenen Wege zu finden ist. Vor allem aber erzählt es Geschichte in Geschichten: von Gletschern und Findlingen, von Fröschen, Fledermäusen und glücklichen Königen, von schönen Frauen und großen Künstlern, vom Essen und vom Trinken, vom Schwimmen in Seen und Flüssen, von Millibauern, Madonnen und Marzipan.