Bayerische Geschichten 11/2024: Frauenschicksale während Flucht und Vertreibung
Liebe Leserinnen und Leser,
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten Millionen von Deutschen ihre Heimat im östlichen Europa verlassen. Aufgrund der kriegsbedingten Abwesenheit der Männer waren es vor allem Frauen, die sich durch Kriegs- und Nachkriegschaos auf den sehr beschwerlichen Weg nach Westen machten. Es ist höchste Zeit die Geschichte dieser Mütter, Großmütter, Schwestern und Tanten, ihre Erfahrungen und ihre Leistungen zu dokumentieren und in der öffentlichen Erinnerung zu verankern. Im Mittelpunkt von „Ungehört – Die Geschichte der Frauen“ stehen sechs Zeitzeuginnen aus unterschiedlichen Regionen des östlichen Europas, deren Einzelschicksale die nüchternen Zahlen und Fakten zu Flucht, Vertreibung und Integration vorstellbar und nachvollziehbar machen. Die Publikation beleuchtet die Zeit des ausgehenden Zweiten Weltkriegs und die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre bis in die 1970er Jahre.
Am Beginn des Exodus der Deutschen aus Osteuropa stand die Flucht vor der seit 1943 heranrückenden Roten Armee. Da zahlreiche Männer noch im Krieg bzw. in Kriegsgefangenschaft waren, waren viele Frauen mit ihren Kindern und älteren Angehörigen auf sich allein gestellt. Sie flüchteten zu Fuß, mit Fuhrwerk und Zügen. Sicher war keiner dieser Wege und gerade Säuglinge überlebten die harten Bedingungen der Flucht oft nicht. Mit dem Kriegsende kam es in den von Polen übernommenen Gebieten zu den „wilden Vertreibungen“, die zahlreiche Todesopfer forderten. Auch die anschließende „kollektive Umsiedlung“ der noch verbliebenen deutschen Bevölkerung lief nicht friedlich ab. Den Familien blieb in der Regel kaum Zeit, ihr Haus zu verlassen, sodass sie nur wenig Gepäck mitnehmen konnten.
War der – oft traumatische – Weg in den Westen geschafft, mussten die Frauen zuerst nach einem Dach über dem Kopf für sich und ihre Kinder suchen. Fündig wurden sie angesichts der Kriegszerstörungen in den Städten in erster Linie auf dem Land. Die einheimische Bevölkerung reagierte auf die Neuankömmlinge jedoch oftmals mit offener Ablehnung. Die in der Regel äußerst beengten Wohnverhältnisse und der Verlust jeglicher Privatsphäre erschwerten den Neuanfang zusätzlich. Zahlreiche Familien waren zudem durch die Flucht getrennt worden, sodass nach der Ankunft im Westen zunächst die Suche nach Familienangehörigen im Fokus stand. Diese dauerte trotz Unterstützung des Roten Kreuzes oft mehrere Jahre.
Auch für das Familienleben und die traditionellen Geschlechterrollen hatte der Krieg tiefgreifende Folgen. Vielfach hatten – notgedrungen – Frauen die Rolle als Familienoberhaupt und Versorger übernommen. Sie bemühten sich um eine Arbeitsstelle und waren neben den üblichen „Hausarbeiten“ auch für das Schlangestehen vor Lebensmittelgeschäften wie für Behördengänge zuständig. Die Rückkehr der Männer aus der Gefangenschaft stellte diese neuen beruflichen und sozialen Positionen sowie die neuen Geschlechterrollen wieder infrage. Schritt für Schritt machten die Männer den Frauen diese Positionen streitig und eroberten die Rolle des Familienoberhaupts zum Teil zurück. Die Doppelbelastung der Frau durch Haushalt und Berufstätigkeit blieb jedoch die Regel.
- ISBN: 978-3-86222-509-5