Bayerische Geschichte(n), 02/2016: Absonderlein ist etwas matt

Der Federstrich im Selbstporträt als Psychogramm: „Der Andere in mir, der sich Ärgernde, der ewig Unruhige, der Störer, der Wegelagerer hat mir wieder aufgelauert …“
Der Federstrich im Selbstporträt als Psychogramm: „Der Andere in mir, der sich Ärgernde, der ewig Unruhige, der Störer, der Wegelagerer hat mir wieder aufgelauert …“ (Fotos: Nachlass Helmut Ammann)

Liebe Leserin, lieber Leser,

so vielgesichtig, wie der Bildhauer Helmut Ammann im Jahr 1987 sein Selbstporträt in Bronze arbeitete, so vielschichtig sah er auch seine eigene Persönlichkeit: Er habe 36 Seelen, sagte er über sich selbst. Dialogische Selbstgespräche, schriftlich in seinen Tagebüchern festgehalten, führten ihn aus Schaffens- und Lebenskrisen heraus: „So wie der Mensch, der in einem kleinen Kahn in Seenot geraten ist und aus Leibeskräften rudert, um das nur noch geahnte Ufer zu erreichen, bin ich gezwungen zu schreiben und nicht mehr aufzuhören, bis der Sturm sich legt und das Land sich zeigt.“ Der Bildhauer, Maler und Grafiker Helmut Ammann (1907 – 2001) lebte in München und zuletzt in Pöcking am Starnberger See. Als Vertreter der klassischen Moderne strebte er nach Erneuerung durch Reduktion und Verdichtung der Form. Er wurde unter anderem mit dem Albert-Schweitzer-Preis und dem Schwabinger Kunstpreis für Plastik ausgezeichnet.

Das fragende Selbstbildnis ist ein wiederkehrendes Thema im Werk von Helmut Ammann: Auf einer Studienreise nach Frankreich zeichnete er sich im roten Anzug in seinem Zimmer.
Das fragende Selbstbildnis ist ein wiederkehrendes Thema im Werk von Helmut Ammann: Auf einer Studienreise nach Frankreich zeichnete er sich im roten Anzug in seinem Zimmer.

Helmut Ammanns ernste, reflektierte, auch strenge und stets selbstkritische Seite war verschwistert mit seiner heiteren, spitzbübischen Art und seiner Lust am Rollenspiel. So schuf sich der 1907 in Shanghai geborene Künstler eine Zeichenfigur mit Chinesenhut als Alter Ego, dem er seine kleinen Alltagssorgen anvertraute. Dieses „Absonderlein“ trat „in tausenderlei Gestalt“ auf und begleitete seinen Schöpfer humorvoll durchs Leben. Dazu dichtete er etwa: „In jedem Ding – kann’s anders sein? – steckt irgendwie Absonderlein und ist es einmal nicht darin, dann hat das Ding auch keinen Sinn.“ Auch in den gezeichneten „Morgengrüßen“, die Ammann seiner Frau täglich auf den Frühstückstisch legte, durfte das wundersame Chinesenmännchen stellvertretend für den Künstler auftreten.

Wissbegierig, kritisch und belesen wie sein Schöpfer: Das „Absonderlein“ studiert den „Fahrplan der Kultur“.
Wissbegierig, kritisch und belesen wie sein Schöpfer: Das „Absonderlein“ studiert den „Fahrplan der Kultur“.

In seinem Tagebuch notierte Ammann zur Erfindung des „Absonderlein“: „Die Entwicklung der einen Strichzeichnung muss ich bis zur größten Perfektion treiben. Erst dann können die Absonderlein-Ideen endgültige Gestalt annehmen.“ Der überaus vielseitig begabte Künstler war aber nicht nur ein virtuoser Zeichner, der auf Servietten oder Briefumschlägen mit einigen wenigen Strichen „anonyme Zeitgenossen“ zu skizzieren wusste, er war auch ein wahrer Wortkünstler: Mit oftmals spontan entstandenen Schüttelreimen und immer wieder neuen Limericks verzauberte er seine Zuhörer. Zuweilen war aber ob solch geballter Schaffenskraft selbst das Absonderlein erschöpft: „Absonderlein ist etwas matt, / Drum legt er sich als Ahornblatt / Ganz flach auf einen Rasen nieder. / Denn alle Kraft kommt ja nur wieder, / Wenn man versteht, entspannt zu sein, / Sagt halb im Schlaf Absonderlein.“

Der dritte Band der Werktagebücher von Helmut Ammann erscheint unter dem Titel „Fragmente, Zyklen, Reflexionen“. Sein Biograf und Nachlassverwalter Erich Kasberger macht den vielseitigen Künstler darin auch als Literat sichtbar.