Bayerische Geschichten 7/2024: Reise in die europäische Vergangenheit
Liebe Leserinnen und Leser,
„Pommerland ist abgebrannt“: Mit der Vernichtung ihrer Güter im Dreißigjährigen Krieg beginnt die abenteuerliche Geschichte der Familie Tessin. Vom 17. Jahrhundert bis heute verstreuen sich die Mitglieder des Hauses in halb Europa, werden als Baumeister, Juristen, Militärs und herzogliche Minister berühmt. Durch Heiratsverbindungen zum aufstrebenden Industrieadel kommen sie zu beträchtlichem Reichtum, bevor sie schließlich in der Neuzeit ihr gesamtes Vermögen sozialen Zwecken zuführen. In dem reich bebilderten, prächtigen Buch „Künstler, Offiziere, Unternehmer, Wohltäter“ verfolgt der Historiker Reinhard Heydenreuter die rundum außergewöhnliche Geschichte der Familie Tessin und lädt zur Reise in die Vergangenheit ein.
Am 30. Juni 1628 soll sich folgende Begegnung vor den Toren der belagerten reichsfreien Hansestadt Stralsund abgespielt haben:
General der katholischen kaiserlichen Truppen Albrecht von Wallenstein: „Ihr müsst Geld geben!“
Nikolaus Tessin, Vertreter der Stralsunder Bürgerschaft: „Dat hebben wir nich!“
Wallenstein: „Ihr müsst mein Volk in die Stadt lassen!“
Tessin: „Dat dohn wir nich!“
Wallenstein: „Ihr seit Schelme und Bösewichte!“
Tessin: „Dat sünd wir nich!“
Auch wenn sich Historiker einig sind, dass es sich bei dem Dialog um nachträglich erdichtete Propaganda handelt, zeigt er, welche Rolle die Familie Tessin in ihrer ursprünglichen Heimat Pommern spielte. Die Tessins stellten Ratsherren und Bürgermeister, führten Verhandlungen schwierigster Art und personifizierten das „heldenhafte Stralsund“ angesichts der Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs, unter denen kaum ein Landstrich so sehr zu leiden hatte wie das Pommerland.
Die Verbindung mit dem protestantischen Schweden sicherte Stralsunds Überleben: Über das Meer wurde die Stadt mit Fässern voller Brot versorgt, bis Schwedenkönig Gustav Adolf 1630 in Pommern landete. Aber auch für die Familie Tessin blieb die Verbindung in späteren Kriegsjahren und bis weit ins 18. Jahrhundert vorteilhaft. Etwa ab dem Jahr 1640 siedelte Nikodemus Tessin, der Neffe des standhaften Verhandlers Nikolaus, nach Schweden über und machte die glückliche Bekanntschaft des dortigen Hofbaumeisters Simon de la Vallée. Er studierte Architektur bei de la Vallée und arbeitete lange an seiner Seite bzw. an der seines Sohnes Jean. Königin Christina persönlich schickte Nikodemus von 1651 bis 1653 auf Studienreisen durch ganz Europa, erhob ihn 1674 in den Adelsstand und ernannte ihn zwei Jahre später zum Hofarchitekten.
Nikodemus‘ Sohn, Nikodemus Tessin der Jüngere, trat in die Fußstapfen seines Vaters und erlebte den Höhepunkt seiner Karriere mit dem Neubau des 1697 abgebrannten Schlosses in Stockholm. Der Enkel des ersten Tessin-Baumeisters war ebenso für die Fortführung der beruflichen Tradition auserkoren, wurde von seinem Vater zum Architekten ausgebildet, dazu sollten zahlreiche Reisen sein Empfinden für Kunst und Ästhetik schulen. Ein teilweiser Erfolg: Carl Gustav von Tessin wurde zum begeisterten Kunstkenner und -förderer, nutze das von Großvater und Vater bestens bereitete Netzwerk jedoch, um in die Politik zu gehen. Auf den schwedischen Reichstagen 1726/27 und 1731 machte er sich als brillanter Redner einen Namen, vertrat die Interessen Schwedens als Botschafter in Wien und Paris und gilt als einer der einflussreichsten Politiker des 18. Jahrhunderts.
- ISBN: 978-3-86222-325-1