Bayerische Geschichte(n), 09/2015: Kampflose Übergabe in letzter Minute
Liebe Leserin, lieber Leser,
„2 Mann sprangen vom Auto, das Gewehr im Anschlag, wir trafen uns vor der Sakristei. Ein Oberstleutnant mit Ritterkreuz und ein Hauptmann in Wehrmachtsuniform!“, notierte der Gröbenzeller Pfarrer Josef Auer am 29. April 1945. Der Pfarrer hatte eine weiße Fahne als Zeichen der kampflosen Übergabe auf dem Kirchturm gehisst – die amerikanischen Panzer waren an diesem Sonntagvormittag bereits bis in den Nachbarort Graßlfing vorgerückt. „Sofort herunter mit der Fahne!“, brüllten die Uniformierten, soweit sei man noch lange nicht. Schwerbewaffnete Soldaten und SS-Leute fuhren durch den Ort, an allen Häusern mussten die weißen Fahnen – meist hatten die Bewohner eilig Betttücher aus den Fenstern gehängt – wieder entfernt werden.
Die meisten Gröbenzeller wollten die Siedlung den heranrückenden Amerikanern gewaltlos übergeben, um ihre Familien und ihr Hab und Gut nicht doch noch in letzter Minute zu gefährden. Viele hatten wenige Tage zuvor den ausgemergelten und geschundenen KZ-Häftlingen in die Augen geblickt, die als einer der „Todesmärsche“ von einem Außenkommando auf dem Weg nach Dachau den Ort durchquert hatten. Die Lebensmittelhändlerin Viktoria Kiefl hatte, entgegen allen Bestimmungen und vor den Augen der Bewacher, Brot an die Gefangenen verteilt. Aber es gab auch hier Unbelehrbare: Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Martin Steger ließ bis zuletzt den Volkssturm bewaffnet im Ort patrouillieren. Er war fest entschlossen, Gröbenzell gegen den heranrückenden Feind zu verteidigen. Einige beherzte Männer rund um Martin Hatzinger nahmen deshalb am Sonntagvormittag den sich heftig wehrenden Ortsgruppenleiter und mit ihm den ebenfalls bis zuletzt linientreuen Ortsteilbürgermeister Georg Schevzik gefangen.
Die beiden höchsten örtlichen Repräsentanten von Staat und Partei wurden gefesselt auf der Ladefläche eines Lastwagens, unter Kiefern- und Fichtenzweigen versteckt, zu einem nahen Kieswerk gefahren, wo man sie in eine Holzhütte sperrte. Die Einholung der weißen Fahne vom Kirchturm war jedoch für die über die Autobahn vorrückende US-Army das unmissverständliche Signal, dass sie mit der Verteidigung des Ortes zu rechnen hatten. Wieder war es Hatzinger, der sich abends an HJ- und SS-Stellungen vorbeischlich und den Amerikanern mit einer weißen Fahne entgegentrat, als bereits Granaten Schule, Kirche und Pfarrhaus getroffen hatten und ein Kind von einem Splitter getötet worden war. Noch fünf Minuten „und der ganze Ort wäre zusammen geschossen worden“, vermerkte der Pfarrer in seiner Chronik.
Der Gröbenzeller Kurt Lehnstaedt forscht seit mehr als zwanzig Jahren zur Geschichte seines Wohnorts während der NS-Zeit. In seinem Buch schildert er das Wachsen der NSDAP-Ortsgruppe, die Zeit der Machtübernahme, die Gleichschaltung der Vereine, die Verfolgung von Gegnern, die Praxis der Rassenpolitik – und schließlich die Befreiung durch die Amerikaner.