PI: Der singende Baum
1857 schrieb der Märchensammler Franz Xaver von Schönwerth erstaunlich hellsichtig: „Außerdem leiden wir empfindlichst an den Folgen des Vandalismus, mit welchem man vor 50 Jahren gegen alles, was Wald hieß, zu Felde zog. […] Nichts straft sich schneller als die Sünde wider die Natur. Dass sodann die Änderung des Klimas mit zu den Anzeichen gezogen wird, erklärt sich von selbst.“ Schönwerth selbst lag als königlich-bayerischem Ministerialrat viel an der Bewahrung der Natur und besonders am Schutz des Waldes. Dennoch romantisierte er den Wald in den von ihm zusammen-getragenen Märchentexten nicht. Eine karge, oft unerbittliche, aber nichtsdestotrotz atemberaubend schöne Natur spielt hier die Hauptrolle.
30 bayerische Waldmärchen hat Erika Eichenseer nun mit sicherem Gespür aus der beeindruckenden Sammlung Schönwerth ausgewählt, sanft bearbeitet und mit Informationen zu Herkunft und Bedeutung der Texte versehen. Kindergeschichten sind diese alten Märchenschätze meist nicht: Sie leben von ihrer Nähe zum harten Alltag der damaligen Landbevölkerung, von ihrer urwüchsigen Sprache und einem herben Witz.
Die Märchen erzählen von der Persönlichkeit des Waldes, in dessen mythischen Tiefen die Naturgesetze ihre Wirkung verlieren. Hier trifft man ebenso auf weitsichtige und wohlmeinende Holzfräulein wie auf den dunklen Hoimann oder gar den Teufel, der zum Wettstreit um die Hoheit über den grünen Forst aufruft. Der rechte Held kann es mit goldenen Tannenzapfen zu Glück und Reichtum bringen. Doch wer es wagt, die Unversehrtheit von Blatt und Borke anzutasten, dem droht ein übles Ende …