Der Schatten und sein MeisterMITTWOCHNACHT

Am späten Abend stahl Esther Kaup sich aus dem Krankenhaus davon, nachdem der diensthabende Arzt sich geweigert hatte, sie vor dem nächsten Morgen zu entlassen. Das einzige, was sie jetzt wollte, war Ruhe, und ihre Mutter hatte sich bereit erklärt, Alba noch eine Nacht bei sich zu behalten. Esther hatte ihr kein Wort über die Sache mit Fred gesagt. Sie hatte das Gefühl, ihr sei die Sprache genommen, sobald es um ihren Mann ging, und nach den richtigen Worten zu suchen, das alles auszusprechen, hätte sie wohl um den Verstand gebracht.
Ihr Auto stand noch da, wo sie es tagsüber abgestellt hatte, worüber sie sich wunderte – es kam ihr vor, als sei es eine Ewigkeit her, seit sie sich auf den Weg ins Rechtsmedizinische Institut gemacht hatte. Sie fröstelte und nachdem sie den Wagen angelassen hatte, drehte sie die Heizung voll auf. Während der Fahrt dachte sie an nichts. Sie konzentrierte sich darauf, den Weg in der Dunkelheit zu finden, und gab sich dem dumpfen Gefühl hin, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie erst in ihren eigenen vier Wänden angekommen war.

Als sie in der Reihenhaussiedlung vorfuhr, sah sie, dass bei ihrer Nachbarin im Haus nebenan noch Licht brannte. Esther Kaup stellte den Wagen also einige Meter vor dem Haus auf der anderen Straßenseite ab, stieg möglichst leise aus und schlich sich dann vorsichtig zu ihrer Haustür. Neugierige Nachbarn konnte sie jetzt nicht brauchen, am allerwenigsten die missgünstige Jeanette. Sie verharrte kurz vor der Tür und lauschte in die Dunkelheit, dann drehte sie den Hausschlüssel möglichst lautlos im Schloss und schlüpfte hinein, ohne Licht zu machen.
Es roch alles so vertraut und einen Moment lang fühlte sie wirklich fast so etwas wie Erleichterung, endlich zu Hause zu sein. Sie ging in die Küche, wagte es aber noch immer nicht, das Licht anzuschalten. Also versuchte sie, sich mit zitternden Händen im Dunkeln eine Tasse Tee zu machen. Sie füllte den Wasserkocher und setzte ihn in Gang. Die LED-Beleuchtung des Geräts war blau und im fahlen Widerschein dieses kalten Lichtstreifens erblickte sie ein Gespenst. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ihr bewusst wurde, dass das verzerrte Gesicht mit den tiefen, dunklen Augenringen ihr eigenes war, das sich im Schwarz der Fensterscheibe spiegelte. Auf einmal fror sie wieder erbärmlich und zitterte so sehr, dass sie sich bei dem Versuch, das kochende Wasser in die Teetasse zu schütten, die Hand verbrühte. Sie unterdrückte einen Schrei und hielt die Hand unter den kalten Wasserstrahl des Küchenwaschbeckens. Minutenlang stand sie da, unbeweglich, leer, ließ sich das eiskalte Wasser über die Hand rinnen und spürte es doch nicht.
Alles, was sie spürte, war, wie es in ihrem Kopf hämmerte, als sei dort eine Bohrmaschine installiert worden. Das Hämmern hatte in dem Moment eingesetzt, als der Kommissar ihr das Schreckliche, das Unvorstellbare gesagt hatte. Sie wagte kaum, es zu denken. Fred, ein gesuchter Vergewaltiger. Dann hatte die Ärztin ihr eine Spritze gegeben und das Hämmern hatte nachgelassen. Doch jetzt, ganz plötzlich, war es wieder da zusammen mit diesem schrecklichen Satz. Es hämmerte und hämmerte, und mit jedem dieser Schläge, die ihren Kopf erschütterten, hämmerte sich in ihr Bewusstsein ein, dass das einfach nicht sein konnte. Jeder Schlag war ein lautes ‚Nein‘, und jedes darauf folgende ‚Nein‘ noch etwas lauter, heftiger, schmerzhafter. Aber mit jedem verzweifelten ‚Nein‘ traf sie auch die Erkenntnis ein wenig mehr, dass vielleicht doch etwas dran war. Fred. Ein Vergewaltiger. Fred. Tot. Fred, wie er da lag, im Obduktionsraum, auf dieser Bahre. Was war mit seiner Nase passiert? Er hatte doch so eine schöne, gerade Nase. Die hatte auf dem Phantombild nicht gestimmt. Dann konnte es also nicht stimmen.
Nein. Nicht Fred. Bitte nicht.

Mitten in der Nacht wachte Esther Kaup auf. Es war stockfinster. Wie spät mochte es sein? Wann war sie eingeschlafen? Sie hatte sich die Treppe hinauf geschleppt, sich ihr Nachthemd angezogen und sich ins Bett gelegt, aber das Hämmern hatte nicht nachgelassen. Auch nicht, nachdem sie eine Kopfschmerztablette genommen hatte. Also hatte sie noch eine genommen, aber es hatte nichts geholfen. Dann noch eine und noch eine, damit dieses Hämmern endlich aufhörte, damit die Bohrmaschine in ihrem Kopf endlich Ruhe gab. Aber gegen dieses Hämmern half keine Schmerztablette. Und dann musste sie doch irgendwie eingeschlafen sein. Und jetzt war jemand im Haus. Sie wusste es. Woher sie es wusste, konnte sie nicht sagen. Sie lauschte angestrengt, doch sie hörte keinerlei Geräusche, bis auf das regelmäßige, leise Ticken des Weckers auf ihrem Nachtkasten.
Sie setzte sich auf und sofort begann es wieder, in ihrem Kopf dumpf zu hämmern. Doch da war noch etwas anderes. Schritte? Das Rascheln von Kleidung? „Fred?“, flüsterte sie. Dann wiederholte sie etwas lauter: „Fred?“ Sie lauschte, aber es blieb still. Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht, sie fühlte sich wie gelähmt. Und dann überkam sie die Angst, wie ein lauerndes Tier, das plötzlich auf seine Beute springt. Die Angst packte sie im Nacken, lief ihr in Schauern über den Rücken, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Ganz deutlich hörte sie jetzt einen Menschen die Treppe heraufkommen.

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