Bayerische Geschichte(n), 30/2015: Man enthalte sich des Rauchens
Liebe Leserin, lieber Leser,
bei Herrn Beck in der Wörthstraße kann man die Rasierklingen noch einzeln kaufen. Herr Beck lobt die Kernseife mit echtem Bor. Die Auslagen im Schaufenster beschriftet er stets selbst, von Hand und in akkurater Schönschrift. „Das ist viel wirkungsvoller als die gedruckte Reklame!“ – so seine Überzeugung. Zum Sortiment der Drogerie gehören auch die von Herrn Beck zusammengestellten Teemischungen gegen Bronchitis, Gallensteine oder Magenbeschwerden. Als Gebrauchsanweisung steht auf jeder Tüte: „Ein Esslöffel Tee in ½ Liter Wasser kalt aufsetzen, zum Brodeln bringen, abseihen, mit Malz süßen, in kleinen Schlückchen schlürfen. Man enthalte sich des Rauchens.“
Zur Kundschaft von Herrn Beck gehören auch die Schwestern der nahen Nonnenschule und die Haidhausener Muatterl, die sich schon zur Frühmesse in der Kirche einfinden und ihre Einkäufe in großen, meist mittelbraunen Kunstledertaschen nach Hause tragen. In der Nachmittagssonne rasten sie auf einer der Parkbänke am Johannisplatz. Zwischen Wiener Platz und Orleansstraße findet man in den 1970er Jahren noch Geschäfte und Handwerksbetriebe, wie es sie anderswo schon längst nicht mehr gibt: den Kohlenhändler, der auch kleinste und allerkleinste Mengen verkauft, oder den hustenden Schuster in seiner feuchten, kalten Werkstatt, der nur noch zwei Zähne im Mund hat und die Fotografin misstrauisch beäugt.
Nur ein paar Häuser weiter in einem Hinterhof blinzelt der Hausmeister in die Sonne. Er lässt sich gerne fotografieren und freut sich über einen kleinen Ratsch. Freimütig verrät er sein Alter. Mit einem vieldeutigen Lächeln fügt er allerdings hinzu, dass er eigentlich drei Jahre jünger ist: Die Jahre, die er im Gefängnis abgesessen hat, zählt er als verlorene Lebenszeit doppelt. Im Haidhausen der 1970er Jahre trifft man vorwiegend alte Leute. In der Metzstraße 15, kurz vor dem Weißenburger Platz, aber lebt in der „Kommune Metzstraße“ die RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt. Der Gitarrenlehrer, der dort ebenfalls wohnt, ist ahnungslos. Dem Mann mit dem schwarzen Schlapphut, der an seiner Tür klingelt, serviert er Erbsensuppe. Über die neugierigen Blicke aufs Bücherregal und die Frage des Verfassungschützers nach seiner Lektüre wundert er sich dann aber doch.
Kaum etwas erinnert heute noch an das Haidhausen von einst. Sabine Jörg lässt in „Wiedersehen mit Haidhausen“ mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos und kurzen Episoden das Viertel lebendig werden, wie es in den 1970er Jahren ausgesehen hat, bevor es als einer der ersten Münchner Stadtteile von der Gentrifizierung heimgesucht wurde.