Bayerische Geschichten 16/2024: Literarisch herausragend

Liebe Leserinnen und Leser,

„Literarisch herausragend in Sprache und Ästhetik“, sagt Bachmann-Preisträger Norbert Niemann über den ersten Roman von Marion Haass-Pennings. Und wir könnten nicht stolzer sein, das Debüt der Münchner Autorin in unserem Herbstprogramm 2024 zu präsentieren:

Ulli ist elf Jahre alt, als er in der Isar ertrinkt. Nur die Schuhe hat er ausgezogen, bevor er ins Wasser sprang.

Jahre später erinnert im Leben der Familie nichts mehr an den schrecklichen Verlust. Doch Ullis Schwester Moon lässt der Tod des Bruders nicht los. Die Erinnerung an Ulli treibt sie voran – und langsam in den Wahnsinn. Weshalb tauchen immer mehr Menschen, Orte, Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit auf, die es scheinbar nie gegeben hat?

Während die Risse in ihrer Welt immer größer werden, folgt Moon Ullis Spuren und dem Unaussprechlichen, das hinter seinem Tod lauert.

Leseprobe:

„Dir brechen bloß die Nägel ab“, sagte Säbener, als sie ihn in einem der Bauwagen gefunden hatte. „Du glaubst gar nicht, wie ich den Polier bearbeiten musste, von wegen Frau auf dem Bau, und ein extra Klo mussten wir auch noch hinstellen.“

„Schön, wie du dich auf deiner eigenen Baustelle durchsetzen kannst“, meinte Moon.

Er taxierte ihr T-Shirt, die Jeans, ihre Turnschuhe. „Ich geb dir später eine Adresse, da gibt’s Arbeitskleidung. Die Stiefel sind das Wichtigste. Stahlkappen. Du wirst dich wundern, wie oft dir was drauf fällt. Mit zerquetschten Zehen bist du berufsunfähig.“

„Sieht auch scheiße aus“, sagte Moon.

„Dann zeig ich dir jetzt alles.“ Er griff in ein Regal, warf ihr einen gelben Helm zu und sprang aus dem Wagen.

Ein Vorarbeiter sah mit gerunzelter Stirn von einigen Bauzeichnungen hoch. Sein Blick wanderte über Moon und blieb auf Höhe ihrer Brüste liegen. Sie stemmte die Hände in die Taille und drückte den Rücken durch.

„Das ist der Polier. Bentsch“, sagte Säbener. Moon sagte Grüß Gott. „Du machst alles, was er dir anschafft, verstanden?“

Sie nickte widerwillig. Säbener kniff die Augen zusammen. „Nicht rumdiskutieren wie sonst immer.“

Das ging ja gut los.

„Und du erklärst ihr alles.“ Er hieb Bentsch auf die Schulter. „Auch die Theorie. Das Fräulein wird Architekt.“

Bentsch nahm die Fäuste von den Plänen und öffnete den Mund, aber was er sagte, ging in einem metallischen Kreischen aus der Baugrube unter, in der eine Baggerschaufel über den Kies schabte. Sie ließen einen Kipplaster passieren, der dröhnend die Rampe aus der Ausschachtung genommen hatte. Der Fahrer hängte sich aus dem Seitenfenster und pfiff Moon zu.

Nach ein paar Schritten wies Säbener auf den Bauzaun rund um das Gelände. „Spundwände“, nickte er. „Wenn man wenig Platz hat, und dass einem nicht die anderen Gebäude in die Grube rutschten. Und als Abdichtung gegen Wasser. Ist halt viel teurer als Ausschachten ohne.“

Er zog sie weiter, bis sie über ein wippendes Brett voller Mörtelbatzen in einen einstöckigen Rohbau über einem langgestreckten Fundament kamen. Moon atmete tief den feuchtkalten Betongeruch ein. Auf dem Estrich schimmerte Wasser. Ein Wald aus Metallpfosten stützte die Decke. Bohren, Hämmern, Schimpfen.

Säbener reckte den Hals, eilte nach hinten und riss einen Jungen hoch, der an einem Ziegelstein herumklopfte, einige zerschlagene lagen neben ihm. „Was machst du mit meinem Material, Hubert, glaubst du, das Geld wächst auf der Straße, verdammt nochmal – Witte!“

Dem jungen Typ, den Moon für einen Maurerlehrling hielt, fiel der Hammer aus der Hand. „Herr Witte hat vorhin gesagt, ich soll einen Ziegel kleiner machen, damit er da über dem Fenstersturz reinpasst.“

„Ja, du Idiot, aber doch nicht reihenweise zu Mehl verarbeiten, muss man denn alles selber machen. Witte!“

Der kleine Maurer schrumpfte unter dem Gebrüll.

(…)

„Warum schaust du so?“ Hubert. So früh am Morgen.

„Lass mich in Ruh.“ Moon stach mit ihrer Kelle wieder und wieder in den feuchten Mörtel, rührte immer mehr Sand unter die blasenschlagende, suppige Mischung.

Später setzte sie sich rittlings auf die Leiter. Immer wieder das Klatschen des Mörtels, wenn sie ihn in den Spalt warf. Das Verdichten neben und hinter den Leitungen mit der Kellenkante, das Glattstreichen, Egalisieren mit der Wand gefielen ihr. Das sanfte Schaben über den rauen Beton.

Sie betrachtete die Wände. Neben dem Treppenschacht klaffte in ganzer Etagenhöhe ein breiter Spalt, in dem Rohrleitungen verliefen wie Staubsaugerschläuche. Der eine Eimer Mörtel würde wahrscheinlich nicht reichen. Sie stieg von der Leiter und mischte neuen an. Zement, Sand, Wasser.

Eine Blase zerplatzte. Moon starrte in den Eimer. Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt. Etwas war mit dieser Farbe gewesen, ein Graubeige, ein matter Glanz … Sie rührte weiter, stieg wieder auf die Leiter, warf und rüttelte und zog glatt. Die Übergänge wurden super.

Ein Tier vielleicht. Sie verspürte einen Stich, so stark und körperlich, dass sie sich an der Leiter festhalten musste. Die Kelle landete mit einem lauten Klingeln auf dem rohen Betonboden.

Ulli. Etwas mit Ulli.

So viele Jahre hatte sie nicht von ihm geträumt.