Bayerische Geschichten 04/2025: Eine Spurensuche durch Zeiten und Räume

Liebe Leserinnen und Leser,

ein brandenburgisches Gesindehaus im kleinen Dorf Friedenfelde bei Gerswalde – Axel Lawaczeck kann sein Glück kaum fassen, als er den Zuschlag für den Kauf erhält. Doch das einsturzgefährdete Gebäude, das vor Jahrhunderten neben dem ehemaligen Gutshaus Achim von Arnims errichtet wurde, muss erst aus seinem Dornröschenschlaf erweckt werden.

13 Jahre wird die Sanierung schließlich dauern. Immer wieder stößt der neue Eigentümer dabei auf Fundstücke aus der Vergangenheit, auf Zeugnisse der Menschen, die hier einst lebten. Seine Spurensuche führt ihn durch Zeiten und Räume – von der Gegenwart bis in den Barock, von Pommern und Ostpreußen bis nach Bessarabien und in die Karibik. Ein Mosaik aus Schicksalen entsteht, vom Leben selbst in die Schönheit einer einzigartigen Landschaft gelegt, in der sich deutsche Geschichte und uckermärkische Überlieferung spiegeln wie die Sonne in einem stillen See.

Leseprobe

Beim Erwerb des Gesindehauses fand ich im Durchgang zur hintersten Kammer eine Tür vor, die mir seltsam erschien. Sie ist sehr alt, von krummen Maßen und auf einer Seite vollständig plan, während auf der anderen Seite zwei Kassetten eingesetzt sind, die obere mit einem kleinen quadratischen Fenster versehen.
„Eine Tapetentür“, meinte Ernst, als ich ihm die merkwürdige Tür zeigte. Ich hatte sie im Garten auf zwei Böcke gelegt, um mit Heißluftgebläse und Spachtel das tropfnasige Cremeweiß vom Holz zuschaben.
„Eine Tapetentür?“
„War bestimmt mal im Gutshaus verbaut. Ein versteckter Durchgang. So glatt wie die Wand, ohne Zarge. War oft mit derselben Tapete des Raums beklebt. Dadurch kaum sichtbar. Tapetentür eben.“
„Warum sollte man das gemacht haben? Ein Geheimgang?“
„Nee, eher ein Zugang für Diener. Zum Beispiel zwischen Küche und Speisesaal.“
„Und warum ist dann ein Fenster drin?“
„Kam vielleicht nachträglich rein. Als die Tür schon hier in deinem Haus war. Damit mehr Licht in die Kammer fällt.“
Als ich die dicke Farbschicht abtrug, kam darunter ein dünn lasierter Braunton zum Vorschein, mittig an der Seite abgegriffen von den Berührungen ungezählter Hände, ebenso einige längst verschlossene Löcher in der Tür, die zeigten, dass zuvor schon andere Schließmechanismen verbaut worden waren. […]
Die barocke Tür kam vielleicht ins Gesindehaus, als nach der Zeit des Gutshausbesitzers Achim von Arnim um 1820 ein neu oder wieder errichtetes Gesindehaus nach Türen verlangte und die Tapetentür im Gutshaus nebenan entbehrlich erschien. Wie viele und welche Menschen haben sie einmal geöffnet und geschlossen? Einen dieser Menschen und sein Schicksal wollen wir beleuchten und dabei in Anbetracht aller theoretischen und praktischen Möglichkeiten der Phantasie keine Grenzen setzen, denn kühn vermag das Leben seine Geschichten zu schreiben.

1756 nach Christus. Das Jahr geht seinem Ende zu. Am Hafen von Christiansborg an der Sklavenküste – dort befindet sich heute die ghanaische Hauptstadt Accra – legt ein Schiff an. […] Die anlegende Fregatte ist die „Fredensborg“ aus Kopenhagen. Gelöscht werden feine Tücher, Weine, kostbare Erzeugnisse aus europäischen Manufakturen, edle Waffen aller Art. Man braucht diese Produkte, um damit die arabischen Sklavenhändler bezahlen zu können, die tief im Innern des Kontinents junge Menschen einfangen, ganze Dörfer entvölkern, in Ketten schlagen. Kaum ein Europäer würde sich dorthin trauen, in die Regionen wilder Tiere, Stammesfehden und todbringenden Geschmeißes. Doch die geraubten Arbeitskräfte nimmt man gerne, unentbehrlich sind sie in den Kolonien jenseits des Atlantiks, weil die dortige Bevölkerung längst den eingeschleppten Epidemien der Europäer erlegen ist. Der Kaufmann Frederik Bargum führt die Geschäfte der dänischen „Vestindisk-Guineisk Kompagni“ und hat den Auftrag, die königlichen Kolonien in Dänisch-Westindien mit Sklaven zu beliefern: Saint Thomas, Saint John, Saint Croix – heute sind es die Amerikanischen Jungferninseln.
Nun stehen am Steg 200 aneinandergebundene Menschen. Manche sind noch Kinder, vielleicht zehn Jahre alt, die ältesten sind junge Erwachsene. Einen von ihnen möchten wir auf seinem mutmaßlichen Lebensweg näher begleiten und weil er in dieser Erwähnung nicht namenlos bleiben soll und weil sein wahrer Namen nicht mehr bekannt ist – keine Himmelsmacht könnte wiederbringen, wie seine Eltern ihn einmal nannten –, möchte ich mir erlauben, ihn Jeva zu nennen.
Jeva kennt wie die meisten seiner Mitgefangenen das Meer nur aus Erzählungen seines Dorfes und nun sieht er erstmals das endlose, furchteinflößende Blau. Ein wochenlanger Marsch voller Qualen durch Wüsten, Sümpfe und Wälder liegt bereits hinter ihm, viele seines Sklavenzugs sind unterwegs gestorben, nur die Starken haben den Weg bis hierher geschafft. Seltsam gewandete weiße Menschen – auch eine solche Hautfarbe hat er nie zuvor gesehen – treiben ihn nun mit Stöcken und Flüchen in einer ihm unbekannten Sprache über die Planken ins Schiffsinnere. […]
Von Christiansborg aus steuert die Fregatte das südlich gelegene Sao Tomé im Golf von Guinea an, von dort sollen günstige Passatwinde und Strömungen das Schiff über den Atlantik nach Westen tragen.
Eng aneinandergepfercht wie gestapelte Säcke verbringen Jeva und seine Leidensgenossen die Tage unter Deck im Dunklen, das ungewohnte Schlingern, Stampfen und Rollen über der Dünung macht sie alle seekrank. Die Sonne schlägt auf das Deck, darunter ist es zum Vergehen stickig. Kakerlaken und Ratten klettern über die verstauten Menschen hinweg; während der Flauten geht kaum ein Wind durch das verkotete Zwischendeck, in dem es zum Gotterbarmen nach Durchfall, Erbrochenem und Krankheiten stinkt. […]
Auch junge Frauen sind unter den Geraubten. Nachts, wenn die Wachen kommen, hört man ihre Schreie durch das Deck hallen. Nach zwei Monaten der Passage, die jeder Vierte im Zwischendeck nicht überlebt, erreicht die „Fredensborg“ endlich ihr Ziel. Die Tage der „Quarantena“ verbringt das Schiff vor Anker mit Abstand zum Hafen von Saint Thomas. Man nutzt die Zeit, um die Sklaven etwas aufzufrischen. Jeva bekommt besseres Essen, Obst, Gemüse, sein verschorfter Rücken wird behandelt – die Ware soll gesund aussehen, um in der baldigen Auktion einen guten Preis zu erzielen.
Nach Ablauf der 40 Tage erfolgt das Löschen der Ladung an der Pier: Jeva und die anderen Sklaven betreten wieder Land. Sie staunen, alles hier sieht ähnlich aus und ist doch anders. Während die Männer aus Afrika zu den Verkaufsständen getrieben werden, wo sich schon die ersten Zuckerrohrbarone mit ihren prall gefüllten Schatullen einfinden, beginnt die Grundreinigung des Schiffs. Das Überholen wird einige Wochen dauern, denn nichts riecht furchtbarer als ein Sklavenschiff nach der Überfahrt. Anschließend wird die Fregatte erneut Segel setzen, mit Kurs auf die Heimat Dänemark, Kopenhagen. […]
Jeva ist da schon längst verkauft, schuftet in Lumpen auf einer Plantage, hackt vom ersten Sonnenstrahl bis zum Einbruch der Dunkelheit Zuckerrohr ab. Sklavenkinder sammeln es ein, Sklavenfrauen binden es, Sklavenalte tragen es zur Mühle. Das Leben dort inmitten unendlicher Felder ist kein Leben, sondern ein Sterben, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 25 bis 30 Jahren. Das einzige, was ihnen aus ihrer Heimat geblieben ist, sind ihre Erinnerungen, Geschichten und Gesänge.
Jahrelang arbeitet Jeva auf der Plantage, bis seine gute Gesangsstimme dem Plantagenbesitzer zu Ohren kommt. Dieser wittert ein Geschäft, weil er weiß, dass es in Europa längst zum guten Ton vornehmer Kreise gehört, sich als Ausweis von Vermögen und Weltläufigkeit einen schwarzen Bediensteten zu halten, idealerweise von besonderem Talent oder eindrucksvollem Verhalten.
Im Jahr 1765 wird Jeva aus seiner Baracke geholt und zum Hafen gebracht. Am Pier liegt ein Schiff, wohl wieder aus der Bargum’schen Handlung, das ihn, mittlerweile ist er vielleicht um die 20 Jahre alt, nun gen Osten über den Atlantik trägt.
Nach Wochen auf dem Meer erreicht der Segler eine Küste, an der Jeva zum ersten Mal in seinem Leben keine Palmen sieht. Das Wasser ist grauer, das Licht matter, die Luft kälter, die Menschen sind weißer. Und nun versteht Jeva, dass all jene Gerüchte wahr sind, die man ihm während seiner hastigen Abholung noch zuwispern konnte. Er kommt nach Europa, nach Dänemark, nach Kopenhagen. […]
Durch Dänemark hindurch führt die Reise, über Hamburg, […] über Schwerin und Neustrelitz. […] Endlich erreichen die Reisenden am Abend eine Siedlung, die nur aus wenigen Katen, Scheunen und einem großen Gebäude umgeben von Wald besteht. Die Kutsche biegt auf eine Gutshauszufahrt ein. Letzte Meter über eine ausgefahrene Straße, die heute kaum besser ist als damals. Dann kommt die von zwei Pferden gezogene Kutsche zum Halt. Jeva steigt vom hinteren Bänkchen ab und betrachtet seinen neuen Lebenspunkt, das Gutshaus Friedenfelde. Sein neuer Herr, Joachim Erdmann von Arnim, übergibt ihn den Bediensteten seines Hauses, auf dass sie Jeva gestenreich in die Routinen und Dienste des Hauses einweisen: „Deine Kammer, die Küche, der Speisesaal – und um dem Herrn und seiner Gesellschaft bei Tisch unauffällig zu dienen, wirst du durch diese versteckte Tür gehen …“